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Photo courtesy of Lichuma Davis for Life as an activist project

Nutzen und Missbrauch der Demokratie in einer geteilten Gesellschaft

14-02-2024

In Land im Fokus wirft Democracy International einen genaueren Blick auf die Fortschritte der modernen direkten Demokratie und der Bürger:innenbeteiligung weltweit. Dieser Artikel ist Kenia gewidmet und unterstützt die Webinarreihe “Leben als Aktivist:in”. Sie können sich die Webinare hier ansehen.

Alan Masakhalia ist kenianischer Politiker und Mitglied der Partei FORD KENYA. Er ist seit langem Teil der Zivilgesellschaft und hat einen Abschluss in Politikwissenschaften an der Katholischen Universität von Ostafrika in Nairobi. Gerade vollendet er seinen Master der Politikwissenschaften an der Universität von Nairobi.

 

Gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des

Könnten Sie bitte, wie immer bei Land im Fokus, mit einem Überblick über die aktuelle politische Kultur Kenias beginnen?

Auch wenn Kenias Demokratie noch nicht fortgeschritten ist, kann sie dennoch meinen Ansichten nach als Demokratie bezeichnet werden – vor allem im Vergleich zu unseren Nachbarländern. Kenia hatte noch nie ein Problem mit einer Machtübergabe: wir haben jetzt unseren fünften Präsidenten, und unsere Machtübergaben sind immer friedlich verlaufen. 

 

 

Schauen Sie unser Webinar über Kenia und Afrika "Aktivismus in undemokratischem Kontext" an:

 

Die derzeitige politische Lage in Kenia ist relativ ruhig, auch wenn Lebenshaltungskosten die Opposition aktiv werden lassen. Die letzten Wahlen fanden vor weniger als zwei Jahren statt, und der derzeitige Präsident und seine Regierung sind erst seit anderthalb Jahren im Amt. Das vergangene Jahr war sehr hektisch, und es kam zu Demonstrationen, zu denen die Opposition aufgerufen hatte – aber gegen Ende des Jahres beruhigte sich die Lage wieder. Die Zivilgesellschaft spielt gerade eine wichtige Rolle als Kontrollinstanz der Regierung. 

Wir haben natürlich unsere eigenen Probleme. Stammesdenken und Ethnienspaltungen sind in Kenia ein großes Problem, was vieles Andere überschattet. Selbst wenn wir über die Zivilgesellschaft sprechen, kann es vorkommen, dass sich führende Persönlichkeiten auf die Seite einer Regierung stellen, wenn diese ihrer Gemeinschaft angehört. Angenommen, ich bin Anwält:in: wenn der:die Präsident:in aus meiner oder einer befreundeten Gemeinschaft stammt, werde ich dieser Regierung gegenüber wohlwollend eingestellt sein. Wenn die Regierungsführung jedoch einem rivalisierenden Stamm angehört, ist es höchstwahrscheinlich, 
dass meine Gemeinschaft auf die Straße geht und protestiert. Derzeit herrscht aber zwischen dieser Regierung und der Zivilgesellschaft Frieden.

Was können Sie über die direkte Demokratie in Kenia sagen? 

Die direkte Demokratie ist in Kenia nicht besonders stark verankert. Es gibt keine direkte Möglichkeit für Kenianer:innen, die Entscheidung der Regierung zu beeinflussen, beispielsweise wenn diese einen internationalen Vertrag unterzeichnet. Uns stehen nur sehr wenige Instrumente zur Verfügung, wie beispielsweise das im Jahr 2010 eingeführte Recht auf Abberufung.

Von 2010 bis 2024, also in diesen 14 Jahren, wurde das Abberufungsrecht in Kenia jedoch kein einziges Mal angewandt. Es ist sehr schwierig, eine:n Parlamentsabgeordnete:n oder eine:n Senator:in abzuberufen, da diese in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit nicht abberufen werden können. Gleichzeitig ist es aber auch unmöglich, jemanden abzuberufen, der weniger als ein Jahr noch im Amt noch übrig hat. Unsere Beamt:innen werden für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt, so dass das Zeitfenster für eine Abberufung damit sehr begrenzt ist. Zudem müssen für eine Abberufung Unterschriften gesammelt werden, was in der Praxis in Kenia sehr schwierig ist. Außerdem gilt das Recht auf Abberufung nur im Bezug auf Mitglieder des Parlaments und Mitglieder der Bezirksversammlungen – es gibt also keine Abberufungen von Gouverneur:innen oder dessen Stellvertreter:innen.

Das Instrument, das bisher recht aktiv genutzt worden ist, ist das Petitionswesen. Es gab 19 Petitionen an das Parlament, die darum baten, dass es etwas unternehmen sollte, wie z. B. eine:n bestimmte:n Richter:in, der:die korrupt ist, aus dem Gericht zu entfernen, oder eine:n Beamt:in aus dem Amt zu entfernen, welche:r nicht im Interesse der Öffentlichkeit handelt. Das Instrument nutzen wir. 

Wir haben zwar eine Bürger:inneninitiative, d. h. die Bürger:innen können selbst eine Volksinitiative starten, aber bisher war noch keine erfolgreich. Dieses Instrument ist nur auf nationaler Ebene verfügbar, so dass Bürger:inneninitiativen nicht auf regionaler Ebene gestartet werden können. Das ist der Grund, warum noch keine erfolgreich war, denn die Organisator:innen müssten durch das ganze Land reisen – selbst wenn das Thema, das sie ansprechen wollen, nur ihren eigenen Bezirk betrifft. Die Unterschriftenhürde, um die Initiative bei der Wahlbehörde einzureichen, liegt zudem bei einer Million Unterschriften. Im Jahr 2019 hat nur eine einzige Initiative diese Zahl an Unterschriften erreicht. Dieser Initiativvorschlag wurde den Bezirksversammlungen vorgelegt, aber deren Mehrheit lehnte ihn ab.

Welche anderen Formen der Bürger:innenbeteiligung gibt es in Kenia und wie sieht es mit der Zivilgesellschaft aus?

Es gibt keine Einschränkungen in Bezug auf die Bürger:innenbeteiligung: jede:r kann an jedem Forum oder an jeder Versammlung teilnehmen, jede:r darf wählen – sogar  Gefangene – und Menschen können auch als unabhängige Kandidat:innen bei Wahlen antreten. Es steht jeder:m frei, Mitglied einer Partei zu werden, und jede:r kann der Opposition angehören. Das ist ein bedeutender Fortschritt, denn vor Jahren, unter der Regierung Moi, durfte man nur die Regierung unterstützen, und Mitglied der Opposition zu sein war fast ein Verbrechen.

Wie Sie erwähnten, ist Kenia immer noch ethnisch gespalten. Was denken Sie über das Potenzial der direkten Demokratie in geteilten Gesellschaften im Allgemeinen und in Kenia im Besonderen?

Ich glaube, dass die direkte Demokratie nicht wirksam eingesetzt werden kann solange die Führung der verschiedenen ethnischen Gruppen oder der verschiedenen Stämme gespalten ist. Wenn sich der:die Anführer:in von Stamm A und der:die Anführer:in von Stamm B zusammentun und auf etwas einigen, dann wird der Entschluss zum Wohle des Landes funktionieren. Solange die verschiedenen Stämme im Streit liegen, kann die direkte Demokratie jedoch nicht funktionieren.

Einige Instrumente können in solchen Fällen missbraucht werden. So hat beispielsweise die Oppositionskoalition CORD im Jahr 2016 die Initiative Okoa Kenya ins Leben gerufen, die in Wirklichkeit nur darauf abzielte, die damalige Regierung zu lähmen. Sie zielte nämlich darauf ab, die Geldzuweisungen an die Gemeinden von 15 % auf 45 % zu erhöhen. In Wirklichkeit aber kämpft die nationale Regierung immer noch damit, den Bezirken überhaupt 15 % zukommen zu lassen! Ein anderer Entwurf, der vorschlug, in allen Bezirken einen Gemeindefonds einzurichten, der von den Mitgliedern der Bezirksversammlungen (MCAs) verwaltet werden sollte, konnte in den letzten 10 Jahren in keinem einzigen Bezirk umgesetzt werden. Schließlich plante die Okoa Kenya Initiative auch, die Independent Elections & Boundaries Commission (IEBC, zu Deutsch: Unabhängige Wahlen- und Begrenzungen-Kommission) so umzustrukturieren, dass dessen Leitung zukünftig durch von politischen Parteien gewählten Kommissar:innen übernommen werden sollte. Wie hätte diese Kommission dann neutral oder unparteiisch arbeiten können?

Dies sind einige der Empfehlungen der gescheiterten Okoa Kenya Initiative. Sie verdeutlichen, dass es weniger darum ging, etwas zu ändern, sondern vielmehr darum, die Regierung, die von Vertreter:innen einer anderen Gemeinschaft geführt wurde, zu stören. Da es in Kenia keine Möglichkeit für ein regionales Referendum gibt und ein landesweites Referendum sehr kostspielig ist, war das Hauptziel der Stammesführer:innen einer Gemeinschaft, ein Referendum herbeizuführen, welches die rivalisierende Regierung destabilisieren würde.

Seit der Unabhängigkeit Kenias sind Verfassungsreformen ein großes Thema im Lande. Können Sie einen Überblick über den Prozess geben?

Verfassungsreformen waren in Kenia schon immer ein großes Thema, denn als Kenia 1963 vom Vereinigten Königreich unabhängig wurde, übernahmen wir die kolonialistische Verfassung. Obwohl diese in gewissem Maße angepasst wurde, blieb sie insgesamt stark von kolonialen Einflüssen geprägt. Der damalige Präsident nutzte die Befugnisse, die zuvor der Königin zugekommen waren, und missbrauchte sie. 

Bis 2002 hatte sich der Kampf für die Verfassungsreform weiterentwickelt, und Kenia bekam einen neuen Präsidenten, der Versprach, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Im Jahr 2005 hatte er dann tatsächlich einen solchen neuen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, aber die Kenianer:innen, die über ihn abstimmen sollten, lehnten ihn ab.

Im Jahr 2010 haben wir dann eine neue Verfassung angenommen, die viele Veränderungen mit sich brachte. Kenia erhielt mit dem Obersten Gerichtshof eine neue Justizinstanz, sowie ein Zweikammerparlament, welches aus dem Senat und der Nationalversammlung besteht. Durch die Verfassungsänderung wurde zudem die politische Repräsentation von Frauen eingeführt, und die Möglichkeit geschaffen, als Unabhängige:r zu kandidieren.

Im Jahr 2021 gab es auch einen Versuch, die Verfassung zu verändern – die so-genannte Brückenbau-Initiative, die bereits 2019 vom damaligen Präsidenten Uhuru Kenyatta vorgeschlagen wurde. Diese Initiative sah vor, die Verfassung mithilfe der Presidential Taskforce (der Präsidenten-Arbeitsgruppe) zu reformieren. Der Präsident brachte den Gesetzentwurf ursprünglich 2020 in das Parlament ein, versuchte jedoch später, die Verfassung stattdessen durch eine Volksinitiative zu ändern. Kenyatta selbst war dabei die treibende Kraft hinter der Sammlung von den erforderlichen 1 Million Unterschriften. Zunächst wurde das Referendum von 30 der 47 Bezirksversammlungen gebilligt und war für 2021 angesetzt. Es fand allerdings nie statt, da das Kenias Hohes Gericht es für verfassungswidrig erklärte. Nach vielen Gerichtsverhandlungen bestätigte der Oberste Gerichtshof 2022, dass die vorgeschlagenen Änderungen tatsächlich nicht verfassungsgemäß seien. Jetzt ist dieses Kapitel abgeschlossen, denn wir haben eine neue Regierung, und die Person, die damals gegen die Änderungen gekämpft hat, ist heute unser Präsident.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die Zivilgesellschaft?

Erlauben Sie mir, Sie ein wenig in die 1990er Jahre zurückzuversetzen. Bei den Wahlen 1992 vertrauten die Kenianer:innen auf die Zivilgesellschaft, weil die Regierung korrupt und diktatorisch war. Die Zivilgesellschaft setzte sich für Menschenrechte, Gleichberechtigung und viele andere gute Entwicklungen ein. Als wir 2002 die Regierungspartei absetzten, die Kenia von 1963 bis 2002 regiert hatte, kam die neue Regierung von Mwai Kibaki mit Unterstützung der Zivilgesellschaft an die Macht. Die meisten führenden Vertreter:innen der Zivilgesellschaft wurden als Kabinettsminister:in oder leitende Beamt:innen Teil dieser Regierung, und es entstand eine Regierung, die sich nicht stark von der Zivilgesellschaft unterschied.

Das Problem in Kenia ist heutzutage das Stammesdenken, da führenden Vertreter:innen der Zivilgesellschaft die Dinge oft nur aus dem Blickwinkel ihres Stammes betrachten. Dadurch schwindet das Vertrauen der Kenianer:innen in die Zivilgesellschaft, denn die Werte, für die die Zivilgesellschaft steht – wie beispielsweise Transparenz, Rechenschaftspflicht und Gleichberechtigung – werden nun vom Stammesdenken überschattet. 

Heute hat die Zivilgesellschaft zwar immer noch eine gewisse Bedeutung, aber das Vertrauen in sie hat abgenommen. Die amtierende Regierung hat zwar die Untertützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wird aber von Leuten aus dem Stamm des Präsidenten geleitet.

 

Dieser Artikel wurde im Zusammenhang mit dem Projekt "Leben als Aktivist:in" verfasst. Fünf Länder, fünf Demokratieaktivist:innen, fünf Mini-Dokumentationen! Das folgende Video ist die Dokumentation des Projekts "Leben als Aktivist:in".

Mini-Dokumentation - Diffe erklärt die Realitäten und Herausforderungen des Demokratieaktivismus in Kenia. Diese Dokumentation ist Teil des Projekts "Leben als Aktivist:in", das dieser Artikel unterstützt.

 

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