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The presidential and vice presidential candidates of Taiwan's ruling DPP party (Photo by Joe Mathews

Kann die Demokratie 2024 überleben?

23-01-2024

2024 wird das größte Wahljahr der Geschichte werden. Rund 4,2 Milliarden Menschen – also mehr als die Hälfte der Menschheit – werden in diesem Jahr an nationalen Wahlen teilnehmen können. Und das in 76 verschiedenen Ländern.

Dieser Artikel wurde für Zocalo Public Sphere geschrieben.

Kann die Demokratie das überleben?

Diese Frage mag zynisch klingen. Ein Großteil der Welt hat gelernt, Wahlen mit der Demokratie gleichzusetzen, und das Abstimmen als oberste staatsbürgerliche Verpflichtung zu betrachten.

„Das Wählen ist die zerbrechliste Form des Vertrauens; denn sie umfasst nicht nur die Interessen der wählenden Person, sondern auch die Interessen ihres Lebens, ihrer Ehre und die ihrer Zukunft,“ so der Märtyrer der kubanischen Unabhängigkeit, Dichter José Martí, im 19. Jahrhundert.

Im 21. Jahrhundert sterben solche romantisierten Vorstellungen der Demokratie aus. Die neusten globalen Berichte zeigen, dass die Demokratie in allen Regionen der Welt abnimmt. In den letzten sechs Jahren in Folge wurden mehr Länder mit einem Netto-Rückgang der demokratischen Prozesse verzeichnet als Länder mit einer Netto-Verbesserung. Weltweit wird eine große Desillusionierung der jungen Menschen mit der Demokratie verzeichnet.

Wahlen helfen in diesem Zusammenhang nur wenig dabei, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Sie bewirken zu wenig positive Veränderungen und führen daher zu Frustrationen. Sie können von autoritären Herrscher:innen genutzt werden, um ihre Macht zu festigen. Und sie können so heftig umkämpft sein, dass sie Gesellschaften spalten oder gar zu Gewalt anregen.

Wahlen können Demokratien auch anfällig für Angriffe von außen machen. Das ist vielleicht am deutlichsten in Taiwan erkennbar, wo am 13. Januar die weltweit zweiten für 2024 geplanten nationalen Wahlen stattfinden.

Als ich im vergangenen Dezember Taiwan besuchte, erklärte Vincent Chao, ein Spitzenvertreter der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (Democratic Progressive Party; DPP), dass diese Wahl eine Möglichkeit für den Inselstaat sei, sich national gegenüber China abzusichern. China habe sich nämlich dazu verpflichtet, Taiwan wieder unter seine Kontrolle zu bringen – wenn nötig mit Gewalt. "Die Demokratie ist unsere beste Verteidigung", sagte Chao. In anderen Worten: wenn Taiwan durch die USA und ihre Verbündeten vor chinesischen Angriffen geschützt werden will, muss es demokratisch genug sein, um dies zu verdienen.

Doch die Demokratie macht Taiwan auch verwundbar. Die chinesische Regierung und ihre Vertreter:innen nutzen die offene Politik der Insel aus, um Fehlinformationen zu verbreiten, befreundeten Politiker:innen und Institutionen Geld zukommen zu lassen, und Zweifel an der Demokratie selbst zu wecken. Der chinesische Einfluss reicht bis in jedes Stadtviertel; viele taiwanesische Bezirksvorsteher:innen – de facto gewählte Nachbarschaftsvorsitzende – werden von China finanziell unterstützt, meist durch kostenlose Reisen aufs Festland.

Dennoch sind die Wahlen in Taiwan freier und fairer als in den meisten anderen Ländern. Am 7. Januar finden in Bangladesch die ersten Wahlen des Jahres statt; wo aufgrund von Drohungen gegen ihre Mitglieder die wichtigste Oppositionspartei nicht an der Wahl teilnimmt, und somit bei der Wahl lediglich die bestehende Regierung gestärkt werden wird. In Pakistan werden die Wahlen am 8. Februar vermutlich den Konflikt um den populärsten Politiker des Landes, den ehemaligen Premierminister Imran Khan, weiter verschärfen. Dieser sitzt seit letztem Jahr im Gefängnis, nachdem er von politischen Gegner:innen und dem mächtigen Militär aus dem Amt gejagt wurde. Und im Iran sind die herrschenden Mullahs dabei, Tausende von Kandidat:innen für die am 1. März zu den 290 Parlamentssitzen anstehende Wahl zu disqualifizieren.

Am 14. Februar finden in Indonesien die weltweit größten an einem einzigen Tag stattfindenden Wahlen statt: mehr als 250 000 Kandidat:innen bewerben sich auf nationaler, provinzialer und Bezirksebene um 20 000 Regierungssitze. Der seit zwei Amtszeiten und zunehmend autokratisch regierende Präsident des Landes, Joko Widodo, darf hierbei 2024 nicht zur Wiederwahl antreten. Nachdem er lokale Demokratie und eine nationale Antikorruptionskommission geschwächt hat, nutzt dieser nun seine Macht, um Prabowo Subianto zu unterstützen – ein Nachfolger, der für Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, und Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine unterstützt.

Genau in Russland könnte sich im Jahr 2024 der Gegensatz zwischen Wahlen und Demokratie am deutlichsten zeigen.

Am 17. März sollen sowohl in Russland als auch in der Ukraine Wahlen stattfinden. Davon wird wahrscheinlich aber nur Russlands unfreie und unfaire Wahl abgehalten werden, bei der dem Diktator Putin eine fünfte Amtszeit als Präsident garantiert scheint. Die demokratischen Wahlen in der Ukraine könnten dagegen verschoben werden, um die Wähler:innen auf dem Weg zur Wahlurne vor dem Tod durch russische Raketen und Bomben zu schützen.

Im Frühjahr könnten einige entscheidende Wahlen zeigen, ob Oppositionen den Niedergang der Demokratie rückgängig machen werden – oder ob sie diesen nur verschlimmern werden. In Südkorea finden am 10. April Parlamentswahlen statt, bei denen die politische Opposition versucht, Präsident Yoon Suk Yeol einzuschränken. Dieser hat bereits die Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Rechte von Frauen eingeschränkt.

Im Mai könnte das südafrikanische Oppositionsbündnis die Macht von der Partei übernehmen, die Südafrika seit dem Ende der Apartheid – also die letzten 30 Jahre – regiert hat. Doch ein solcher Machtwechsel ist voller Risiko. Würde die Oppositionskoalition die Demokratie stärken, der Korruption ein Ende setzen, einige der weltweit schlimmsten sozialen Ungleichheiten beseitigen und die maroden öffentlichen Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung retten? Oder würde die Opposition selbst autoritär regieren?

Auch die größte Wahl der Welt steht im Kontext des zunehmenden Autoritarismus: die in Indien stattfindenden einmonatigen Wahlen im April und Mai. Der Hindu-Nationalist und amtierende Premierminister, Narendra Modi, ist der große Favorit und wird wahrscheinlich für eine dritte fünfjährige Amtszeit wiedergewählt werden. Gleichzeitig stellt er vielleicht auch die größte Gefahr für die indische Demokratie dar. Sein zunehmend autokratisches Verhalten umfasst die Einschränkung der Macht der einzelnen Regionen, das Bestrafen von Kritiker:innen und Journalist:innen, die Ausnutzung vom antimuslimischen Fanatismus, und die militärische und digitale Intervention in Kaschmir. 

Die zweitgrößte Wahl der Welt wird in der Europäischen Union stattfinden, wo zwischen dem 6. und dem 9. Juni rund 400 Millionen Wähler:innen in 27 Ländern das Europäische Parlament wählen werden. Dort wächst die Sorge, dass antidemokratische, rechtsextreme und migrant:innenfeindliche Parteien bedeutende Gewinne erzielen werden.

In vielen Ländern, in denen in diesem Jahr Wahlen stattfinden, gibt es ernstzunehmende Fragen bezüglich der Durchführung der Wahlen. Am größten sind diese Fragen in Mexiko, wo 
dem Unabhängigen Nationalen Wahlinstitut (INE) vom scheidenden Präsidenten und seiner Regierungspartei Morena Großteile des Personals und der Gelder entzogen wurden, die eigentlich für die Organisation der Wahlen notwendig sind. Ehemalige INE-Beamt:innen verrieten mir, dass es bei den Wahlen am 2. Juni, bei denen landesweit 20.000 öffentliche Ämter zur Wahl stehen, mit Sicherheit zu Unregelmäßigkeiten kommen wird. Diese würden Fragen zu der Legitimität der Abstimmungen aufwerfen.

Die Wahlen in der zweiten Jahreshälfte sind zwar noch nicht alle festgelegt, aber das macht sie nicht weniger gefährlich. Die Präsidentschaftswahlen in Venezuela sind bereits übel und gewalttätig, obwohl ihr genauer Termin noch nicht feststeht. Unklar ist auch, ob das Vereinigte Königreich, Kanada oder Israel im Jahr 2024 Wahlen abhalten werden; wenn ja, versprechen diese nationale Spaltungen und weltweite Aufmerksamkeit.

Im Herbst finden dann in zwei großen Ländern, in denen es bei früheren Wahlen zu Angriffen auf die Regierungssitze kam, erneut Wahlen statt. In Brasilien finden im Oktober zwei Runden von landesweiten Kommunalwahlen statt – die ersten Abstimmungen seit dem Versuch der Anhänger:innen von Präsident Jair Bolsonaro, dessen Niederlage von 2022 rückgängig zu machen.

Im November geht es für mich zurück nach Hause in die USA. Unsere Wahl dort könnte die gefährlichste des ganzen Jahres sein. Der ehemalige Präsident Donald Trump behauptet weiterhin fälschlicherweise, die Wahl 2020 gewonnen zu haben, und prahlt mit seinem Aufstand 2021, der die Bestätigung von Joe Bidens Sieg verhindern sollte. Trotz dessen führt er in den Umfragen, bedient sich einer gewalttätigen und intoleranten Rhetorik und verspricht öffentlich, Journalist:innen zu verhaften, Oppositionelle strafrechtlich zu verfolgen und eine "Diktatur" zu errichten, sollte er erneut das mächtigste Präsidentenamt der Welt übernehmen.

Die Aussicht auf einen Diktator an der Spitze dessen, was früher als "freie Welt" bezeichnet wurde, könnte fraglich machen, ob es noch einen Gott gibt, der – wie Otto von Bismarck es bemerkt haben soll – „Idiot:innen, Trunkenbolde, Kinder und die Vereinigten Staaten von Amerika beschützt".

Am Ende des Jahres werden diejenigen, die all dem ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, sich so fühlen, als wenn sie eine einzige lange globale Wahl erlebt haben. Nachdem die ganze Hässlichkeit der Wahldemokratie zur Schau gestellt wurde, wird vielleicht die Frage aufkommen, ob es nicht einen besseren Weg gibt.

Wenn Sie sich diese Frage stellen, können Sie einen Blick auf die zunehmende globale Bewegung werfen, die sich für Volksvertretungen einsetzt, die per Losverfahren ausgesucht werden und eine Alternative zu Gremien gewählter Beamt:innen darstellen.

Vielleicht kommt Ihnen aber auch der Gedanke, den Nationalstaat selbst zu überdenken. Die meisten Menschen auf diesem Planeten bemängeln ihre Politiker:innen, ihre Institutionen und die Regierung ihres eigenen Landes. In unserer Zeit scheinen Nationalstaaten zu klein zu sein, um globale Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien und Krieg zu bewältigen; aber gleichzeitig auch zu groß und zu distanziert, um die Bedürfnisse von lokalen Gemeinden zu erfüllen. 

Wenn der Sinn der Demokratie darin besteht, unsere Probleme zu lösen, dann könnten nationale Wahlen – egal in welcher Form sie in diesem Jahr auf dem Programm stehen –nebensächlich wirken. Das Jahr 2024 könnte damit der Beginn einer globalen Suche nach neuen demokratischen Mechanismen der Entscheidungsfindung werden, die uns allen mehr Macht geben, um unsere lokalen Gemeinschaften und unsere Welt zu regieren.

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