Vom Sommer 2020 bis zum Frühjahr 2021 kam es in Bulgarien zu einer Reihe von Protesten, nicht nur in der Hauptstadt Sofia, sondern auch in Städten im Ausland, in denen es eine große bulgarische Gemeinschaft gibt, wie Brüssel und London. Die Proteste richteten sich gegen den bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow, der die Politik des Landes seit mehr als einem Jahrzehnt dominiert. Die Bürger*innen bringen seine Regierungsführung unter der GERB-Partei mit der Zunahme der politischen Korruption in Verbindung. Die jüngsten Proteste haben deutlich gezeigt, wie frustriert die Bulgar*innen über die Korruption und den Mangel an Transparenz in den öffentlichen Einrichtungen sind. Borissow weigerte sich jedoch, nach den Protesten zurückzutreten, indem er öffentlich erklärte, dass die Proteste inszeniert waren und dass es keine angemessene Alternative zu seiner Regierung gab. Als schließlich die vierjährige Amtszeit von Borissovs Kabinett endete, wurden am 4. April 2021 Parlamentswahlen in Bulgarien abgehalten. Leider mussten im Juli 2021 vorgezogene Parlamentswahlen abgehalten werden, da keine Partei eine Regierung bilden konnte oder dazu bereit war. Auch bei den zweiten Wahlen gelang es nicht, in Bulgarien eine neue Regierung zu bilden.
Am 14. November 2021 fanden in Bulgarien die dritten Parlamentswahlen in nur einem Jahr statt. In diesem Zusammenhang sprachen wir mit Daniela Bozhinova, die derzeit als Stadträtin in Burgas, Bulgarien, tätig ist. Als Politikwissenschaftlerin und Sozialunternehmerin, die sich sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene für die Förderung von Demokratie und demokratischer Regierungsführung einsetzt, hat sie starke Zweifel an einem realistischen Bild davon, wie gut sich die Demokratie in Bulgarien entwickelt und welche Erwartungen es für die Zukunft gibt.
Vor den dritten Parlamentswahlen lag ein großer Hoffnungsschimmer in der neu gegründeten Antikorruptionspartei "Wir setzen den Wandel fort" (PP), die von den Harvard-Absolventen Kiril Petkov und Asen Vassilev geführt wird. Die Partei belegte bei den Wahlen überraschend den ersten Platz und gewann 67 der 240 offenen Sitze in der Nationalversammlung. Viele Borissov-Gegner*innen sind der Meinung, dass die PP die Politik in Bulgarien völlig verändern, das Land wirtschaftlich und sozial entwickeln und der weit verbreiteten Korruption ein Ende setzen wird. Frau Bozhinova teilte mit, dass sie persönlich "hoffnungsvoll und skeptisch zugleich" ist, was die Partei betrifft. Nicht, weil sie unbedingt eine Schwachstelle finden möchte, sondern weil die Bulgar*innen bisher eine Reihe von "Messiassen" oder "Übermenschen" erlebt haben, die ihnen die Rettung versprachen, sie dann aber enttäuschten. Daher nimmt sie neue Versprechen zur Abwechslung "mit Vorsicht" auf. Sie hofft wirklich, dass die PP die notwendigen Maßnahmen zur Erholung der bulgarischen Wirtschaft ergreift, die durch die COVID-19-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Partei nicht viele Versprechen in Bezug auf demokratische Reformen gemacht hat. Frau Bozhinova hofft sehr, dass dies bei der Bildung einer Koalition berücksichtigt wird. Sie hofft, dass demokratische Reformen eingeführt werden, da Ideen zur Stabilisierung und Entwicklung der Demokratie in Bulgarien von anderen möglichen Beteiligten an der PP-Koalition propagiert wurden. Eine sehr wirksame Reform wird zum Beispiel die Justizreform sein, bei der gegen einige Personen, die für den Diebstahl öffentlicher Gelder verantwortlich gemacht werden, ermittelt wird und sie anschließend vor Gericht gestellt werden". Das haben die Bulgar*innen in den letzten 30 Jahren nicht erlebt, auch wenn sie viele Versprechungen gehört haben.
Frau Bozhinova betonte auch die Bedeutung der direkten Demokratie als Instrument zur Bekämpfung der Korruption und zur Förderung der Transparenz. Sie hat sich intensiv für die Entwicklung der direkten Demokratie in Bulgarien eingesetzt, wie zum Beispiel ihre jüngste Initiative in Burgas zeigt: Die Bezirksbürgermeister*innen in Burgas werden von den Bürgermeister*innen der Gemeinde gewählt. Es wäre viel sinnvoller, wenn sie direkt von den Bürger*innen gewählt würden, denn dann wären die Bezirksbürgermeister*innen nicht einfach nur Amtsträger*innen, sondern Menschen mit persönlicher Verantwortung gegenüber den Bürger*innen, die durch ihre Stimmabgabe ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Leider will der Bürgermeister der Gemeinde nicht, dass die Menschen die Macht der direkten Demokratie haben, und dieser Vorschlag wurde abgelehnt.
Nicht nur in Burgas, sondern in ganz Bulgarien sind die Instrumente der direkten Demokratie nicht ausreichend entwickelt und werden durch Gesetze eingeschränkt. In 30 Jahren haben die Bulgar*innen keine einzige Entscheidung direkt von den Bürger*innen treffen lassen. Frau Bozhinova erklärte: "Das liegt nicht daran, dass die Bürger*innen nicht aktiv waren, sondern an den schlechten Gesetzen, die den Ausdruck des Volkswillens betreffen". Ein technisches Problem bei Volksabstimmungen ist die Frage des Beteiligungsquorums. Die Senkung des erforderlichen Quorums für die Gültigkeit ist äußerst notwendig, da die derzeitige Schwelle im Gesetz "nicht niedriger ist als die Zahl der Wähler*innen bei den letzten Parlamentswahlen". Das heute geforderte Quorum führt dazu, dass jedes Referendum zum Scheitern verurteilt ist. Dies hält aktive Bürger*innen davon ab, Referenden zu initiieren, und ermöglicht es der repräsentativen Regierung, Grausamkeiten gegen das Volk zu begehen, da sie weiß, dass die Bürger*innen kein wirksames Mittel haben, sie zu kontrollieren. Das Erfordernis der Durchführung von Volksabstimmungen in Bulgarien ist eine Besonderheit des Landes und eine "rechtliche Absurdität, die es in keinem anderen Land gibt“.
Die wichtige Frage ist also, warum sich die Dinge nicht geändert haben, obwohl die Hindernisse für die direkte Demokratie in Bulgarien so offensichtlich sind? Frau Bozhinova sagte, dass "diejenigen, die die Regeln machen, diejenigen sind, die die Macht nicht umverteilen wollen. Bei den Instrumenten der direkten Demokratie geht es darum, dem Volk einen Teil seiner Macht zurückzugeben, die ihm ursprünglich vom Volk übertragen wurde. Die gewählten Regierenden sagen den Menschen, dass sie nicht kompetent genug sind, um Entscheidungen zu treffen. Sie sagen den Menschen, dass sie einfach das Spiel des Referendums spielen können, indem sie Fragen stellen und Unterschriften sammeln". In diesem Zusammenhang denkt sie daran, einen Artikel über "Referenduming" zu schreiben - ein Begriff, der ihrer Meinung nach von ihr geprägt wurde. Die Bulgar*innen haben keine Referenden, sie haben Referenduming - "Referenden, die irgendeinem anderen Zweck dienen, aber nicht ihrem ursprünglichen Zweck, den Menschen die Möglichkeit zu geben, direkte Entscheidungen zu treffen. Sie dienen dem politischen Marketing, dem Parteiaufbau und der Konsolidierung, der Imagepflege, aber nicht der direkten Entscheidungsfindung. Dies ist die Art von Manipulation, die Politiker*innen anwenden, um die Menschen glauben zu machen, dass sie eine gewisse Macht haben, die sie in Wirklichkeit nicht haben“.
Es besteht ein dringender Bedarf an Veränderungen in dieser Richtung, da die direkte Demokratie nicht nur in der Lage ist, die Korruption zu verringern und Transparenz zu schaffen, sondern auch das Vertrauen in das politische System zu stärken. Frau Bozhinova hat zahlreiche empirische Untersuchungen durchgeführt, insbesondere in Ländern, in denen Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen durchgeführt werden, wie in der Schweiz und den USA. Sie berichtet, dass "das Vertrauen in die Institutionen in Kantonen, Staaten und Städten, die über ein gut entwickeltes Initiativ- und Referendumssystem verfügen, viel höher ist als in anderen, die zwar über ein solches System verfügen, es aber nicht gut entwickelt ist". Da die Menschen an Entscheidungen über Themen beteiligt sind, die sie direkt betreffen, wie z. B. die Besteuerung, ist es viel wahrscheinlicher, dass sie etablierten Regeln zustimmen, die durch ihre direkte Entscheidungsfindung befolgt werden, z. B. indem sie zuverlässige Steuerzahler*innen sind.
Im Allgemeinen wollen Politiker*innen, die an der Macht sind, ihre Macht nicht abgeben. Deshalb befürworten nur die Oppositionsparteien die direkte Demokratie. Sobald sie an der Macht sind, ändern sie ihre Meinung. Wie Frau Bozhinova sagte: "Politische Parteien mögen Volksabstimmungen so sehr wie Truthähne Weihnachten". Diese Beobachtung und die politisch instabile Lage in Bulgarien deuten darauf hin, dass es nicht einfach sein wird, die Demokratie zu erneuern und vor allem die rudimentär entwickelte direkte Demokratie zu verbessern. Aber gerade weil es nicht einfach sein wird, die Demokratie in Bulgarien zu erneuern, müssen die Bürger*innen Druck ausüben, um die Instrumente der direkten Demokratie zu verbessern und sicherzustellen, dass die Versprechen der neuen Figuren in der politischen Landschaft nicht nur das bleiben.
"Protests in Sofia, Bulgaria - 16.06.2013" by Georgi C is licensed under CC BY 2.0