Chile weckt Hoffnungen und erntet weltweit Lob, da es Delegierte für einen neuen Konvent wählt, mit dem Ziel, die aktuelle Verfassung zu ersetzen, die ein Produkt der Diktatur von Augusto Pinochet aus dem Jahr 1980 ist. Aber von hier in Santiago aus, wo ich als Politikwissenschaftler lebe und arbeite, scheint der Weg zu einem neuen und demokratischeren Regierungsdokument voller Gefahren zu sein, von denen einige von der Demokratie selbst verursacht werden.
Die hohen Erwartungen an das 19 Millionen Einwohner*innen zählende Chile spiegeln die Unterschiede zwischen Geschichte und Gegenwart wider. Chile war das erste Land der Region, das einen Marxisten zum Präsidenten wählte (Salvador Allende im Jahr 1970), aber auch eines der letzten Länder, das vollständig zur Demokratie überging. Seine Wirtschaftsreformen machten es zum Liebling der Neoliberalen (Chile wurde als "Tiger Südamerikas" bezeichnet) und machten das Land reicher als beispielsweise Argentinien, Brasilien oder mein Heimatland Uruguay.
Ich kam 2003 nach Chile, um eine akademische Stelle anzunehmen. Chile war nicht meine erste Wahl, aber die wirtschaftliche Situation war damals in Uruguay und Argentinien zu schlecht. Als ich mich in Santiago niederließ, lernte ich sofort das höhere Einkommen, die kontrollierte Inflation, das Wachstum und die nüchterne politische Führung zu schätzen. Aber während ich hier eine Familie und ein Leben aufbaute, sah ich Chile sowohl als Herausforderung für die konventionelle Weisheit, dass Wirtschaftswachstum die Demokratie stärkt, als auch als ein Paradoxon steigender Erwartungen, das erst noch gelöst werden muss.
Der Kern des Widerspruchs besteht darin, dass die Wirtschaftsreformen in Chile - die viele Chilen*innen aus der Armut holten, einige Menschen aus der Mittelschicht bereicherten und einige Viertel in Santiago so glänzend wie Manhattan machten - auch die Gesellschaft sozial auseinander bringt und die Demokratie destabilisiert haben. Als sich die wirtschaftliche Situation einiger Chilen*innen verbesserte und das Image des Landes als wohlhabender Ort weltweit verbreitet wurde, erwarteten die Menschen eine bessere Gesundheitsversorgung, bessere Renten und andere Dienstleistungen, als die Regierungen liefern konnten. Und die Erfüllung höherer Erwartungen - mehr Bildung oder eine bessere Lebensqualität - kostete mehr Geld und führte zu mehr Schulden, wodurch die Chilen*innen zunehmend anfällig für die internationalen wirtschaftlichen Schocks der letzten Jahre wurden.
Die wachsende Kluft zwischen Erwartungen und Realität hat die öffentliche Wut vergrößert - und zu einer stärkeren Fokussierung auf die Versäumnisse der noch jungen chilenischen Demokratie und ihrer unflexiblen Verfassung geführt.
Chiles politisches System bot zwar Stabilität, aber keine Repräsentation oder Mittel für Veränderungen. Chile war in 60 Distrikte unterteilt, aus denen je zwei Mitglieder in den Kongress gewählt wurden. Dieses System machte die Wahlen vorhersehbar; dank des Verhältniswahlrechts wählte fast jeder Bezirk ein Mitglied der Regierungspartei und ein Mitglied der Opposition. Die Vertretung dritter Parteien oder externer politischer Kräfte war kaum möglich. Im Laufe der Jahre verloren die politischen Parteien, die wussten, dass sie nicht mit den Wähler*innen reden mussten, den Kontakt zur Öffentlichkeit, und die Politiker*innen wurden älter als der nationale Bevölkerungsdurchschnitt. Die meisten Chilen*innen machten sich nicht mehr die Mühe, wählen zu gehen (zum Beispiel haben bei der letzten Präsidentschaftswahl 2017 weniger als die Hälfte der registrierten Bürger*innen gewählt).
Es war unvermeidlich, dass der Zorn der Bevölkerung explodierte. Die Zündung hätte alles sein können. Es stellte sich heraus, dass die Regierung im Oktober 2019 beschlossen hatte, die Fahrpreise für die U-Bahn um den Gegenwert von sechs amerikanischen Cent zu erhöhen. Hier war klar, dass eine unverantwortliche Regierung den Bürgern zusätzliche Lasten aufbürdete. Die Proteste wurden von Schüler*innen an einer U-Bahn-Station begonnen und nahmen bald die Straßen ein, wobei Universitätsstudent*innen, Gewerkschaften und unorganisierte Menschen teilnahmen. Es kam zu Gewalt durch Polizei und Bürger*innen. (Einer meiner Studenten war unter den ersten, die erschossen wurden.) Im November war das Militär mit seinen Panzern auf den Straßen. Ich hatte Angst vor einem gesellschaftlichen Zusammenbruch.
Die Demonstrierenden forderten mehr als eine Rücknahme der U-Bahn-Tarife; sie wollten eine demokratische Veränderung des Systems, und zu ihren Forderungen gehörte eine öffentliche Abstimmung über eine neue Verfassung. Statt einer einvernehmlichen Vereinbarung fühlte sich die geerbte Charta eher wie eine Zwangsjacke an.
Die Regierung behandelte den Aufstand als eine ausländische Bewegung, die versuchte, das Land zu destabilisieren. Doch die Öffentlichkeit nahm den Aufruf mit solcher Wucht auf, dass die Behörden, die das System lange Zeit geschützt hatten, nicht Nein sagen konnten.
Die Pandemie verlangsamte die Proteste, aber der Drang nach einer Verfassungsänderung hielt an. In einer Volksabstimmung im Oktober 2020 sprachen sich 78 Prozent der Wähler für eine neue Verfassung aus, und 79 Prozent stimmten für einen vollständig gewählten Verfassungskonvent als Weg dorthin (anstelle eines gemischten Gremiums aus Parlamentarier*innen und gewählten Bürger*innen).
Der Entscheid weckte die Hoffnung auf einen echten Wandel in Chile und sorgte weltweit für Schlagzeilen. Aber er war nur der Anfang einer langen Reise durch ein demokratisches Minenfeld, und eine neue Verfassung ist noch lange nicht sichergestellt.
Eines der größten Hindernisse ist die Vielzahl von Abstimmungen, die stattfinden werden, bevor eine Verfassung entworfen und den Wähler*innen zur Ratifizierung vorgelegt werden kann.
Während ich diese Notiz schreibe, ist die erste Komplikation offensichtlich: COVID. Wenn das Parlament den Maßnahmen der Regierung zustimmt, werden sich die Wahlen für den Konvent um mehr als einen Monat bis Mitte Mai verzögern. Gleichzeitig mit den chilenischen Kommunalwahlen wird es eine landesweite Abstimmung geben, um die 155 Mitglieder des Konvents zu wählen - 138 werden von den Distrikten gewählt und 17 von der indigenen Bevölkerung Chiles in einem landesweiten Wahlkreis.
Die Wahl ist voller Neuheiten. Es gibt etwa 1.400 Kandidat*innen für diesen Konvent; erfrischenderweise kandidieren 80 Prozent zum ersten Mal für ein Amt, und fast die Hälfte ist jünger als 40. Die Wahlprogramme betonen die Unabhängigkeit; unter den Gruppen, die kandidieren, sind "Independents Like You", "Independents for Chile" und sogar "Independents Without Godparents" (eine Art zu sagen, dass sie zu niemandem gehören).
Diese Wahl öffnet auch die Tür für eine wirklich revolutionäre Veränderung. Die Listen der Kandidierenden müssen von Frauen angeführt werden, woraufhin die Geschlechter abgewechselt werden (Frau-Mann-Frau-Mann, etc.). Außerdem ist vorgeschrieben, dass bei den Ergebnissen die Gleichstellung berücksichtigt werden muss. (Wenn in einem Wahlkreis mit vier verfügbaren Sitzen vier Männer gewählt werden, verlieren die beiden Männer mit den wenigsten Stimmen ihre Positionen zugunsten der beiden Frauen mit den höchsten Stimmenzahlen auf ihren jeweiligen Listen). Wenn dieser ganze Prozess einen sicheren Hafen erreicht, wird Chile die erste geschlechterparitätische Verfassung in der Geschichte der Menschheit auf nationaler Ebene haben.
Die Mitglieder des Konvents haben ein Jahr Zeit - von Mitte 2021 bis Mitte 2022 - um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Sobald sie fertig sind, wird es eine Volksabstimmung geben, um diese zu ratifizieren oder abzulehnen.
Eine neue demokratische Verfassung könnte ein Wendepunkt für Chile sein, vor allem, wenn sie kurz und einfach ist und genug Flexibilität für Wahlen und demokratische Politik zulässt, um Veränderungen innerhalb des Systems zu bewirken. Aber die Situation ist riskant, und es ist sehr ungewiss, wie das Endergebnis einer neuen Verfassung aussehen wird - aufgrund all der Wahlen, die bis zum Plebiszit 2022 stattfinden werden.
Die Wahlen für die Konventsmitglieder im Mai werden mit den Kommunalwahlen zusammenfallen. Dann muss ein ohnehin schon intensives Wahljahr noch weiter komprimiert werden. In diesem Jahr werden die Chilene*innen auch einen zweiten Wahlgang zur regionalen Gouverneurswahl haben. Im Juli gibt es nationale Vorwahlen, und im November folgen dann die allgemeinen Wahlen (für den Kongress und die Exekutive). Im Dezember findet die Stichwahl um die Präsidentschaft statt.
Bei jeder dieser Wahlen ist es möglich, dass neue Konflikte hervorgerufen und neue Debatten eröffnet werden, die die Unterstützung für den Entwicklungsprozess einer neuen Verfassung untergraben könnten. Die 2021 gewählten Amtsträger*innen - vom nationalen Präsidenten bis hin zu den lokalen Bürgermeister*innen - könnten sich davor hüten, 2022 das Regierungssystem des Landes zu ändern. Der rechte Flügel sprach sich bereits gegen tiefgreifende Änderungen aus.
Und die politische Unerfahrenheit der Konventsdelegierten - die für ein Land, das nach Veränderung hungert, jetzt so attraktiv ist - könnte zur Belastung werden. Diese Neulinge könnten dazu neigen, ein Dokument zu verfassen, das ideologisch polarisierend ist oder zu viele Fehler enthält. Die jungen Konventsdelegierten könnten auch von erfahreneren Amtsinhabenden und Interessengruppen in der Auseinandersetzung um eine neue Verfassung im Jahr 2022 ausmanövriert werden. Die Bevölkerung selbst - nach so vielen Wahlen, der Pandemie und dem Volksaufstand - könnte misstrauisch werden und weitere Veränderungen ablehnen.
Konflikte auf den Straßen könnten auch den politischen Kontext verändern. Polizeigewalt bleibt ein großes und polarisierendes Thema, ebenso wie illegale Einwanderung und Asylbewerber*innen, die meist aus Venezuela und Haiti kommen. Zudem hat das Land hat nicht eine vereinende Figur oder Institution, die bei allen politischen Akteuren Glaubwürdigkeit besitzt. Chile ist ein Minenfeld, und jeder Schritt könnte eine Explosion nach sich ziehen.
Meine Hoffnungen für diesen Prozess sind geringer als meine Befürchtungen.
Ich befürchte größere soziale Konflikte im kommenden Jahr. Ich fürchte, wenn unser Verfassungsprojekt scheitert, wird Chile diese einmalige, öffentlichkeitswirksame Gelegenheit, sich neu zu gestalten, verpassen. Und ich fürchte, dass eine neue Verfassung, wenn sie angenommen wird, schwer fehlerhaft sein wird - und die Chilen*innen letztendlich enttäuschen könnte, wenn sie nicht alle unsere strukturellen Probleme löst.
David Altman ist Professor für Politikwissenschaft an der Pontificia Universidad Católica de Chile und wurde zweimal mit dem uruguayischen Nationalpreis für Politikwissenschaft ausgezeichnet. Zu seinen Werken als Autor gehören “Citizenship and Contemporary Direct Democracy” und “Direct Democracy Worldwide”.
Article photo courtesy of Sarah Stierch (CC BY 2.0 - https://www.flickr.com/photos/sarahvain/6854416358/)