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Eine Bürgerinitiativen-Plattform verändert die Lettische Politik

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Eine Bürgerinitiativen-Plattform verändert die Lettische Politik

17-09-2018

Das digitale Zeitalter bietet neue Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, aber nur an wenigen Orten wurden diese Möglichkeiten so effektiv genutzt wie in Lettland, wo ManaBalss den BürgerInnen eine neue Art der Beteiligung an Entscheidungsprozessen ermöglicht hat. Die Integration von Elementen aus populären Petitionsplattformen und die direkte Verbindung zum lettischen Parlament haben es ermöglicht, dass die Online-Plattform zu einem weit verbreiteten Instrument wurde, das in sieben Jahren bereits 22 Gesetzesänderungen ausgelöst hat. Wir haben mit Imants Breidaks gesprochen, dem Geschäftsführer von Manabalss.lv.

Könntest du zunächst erklären, wie ManaBalss funktioniert? Was war die Idee dahinter?

ManaBalss.lv ist eine Bürgerinitiativen-Plattform oder genauer gesagt eine Online-Plattform zur Einbringung von Gesetzesvorschlägen, auf der BürgerInnen ihre Ideen für neue Gesetze in Lettland kundtun können. Es handelt sich dabei also nicht nur um irgendwelche Petitionen.

Was unsere Plattform von anderen unterscheidet, sind die Ergebnisse: 64% der Initiativen, die im Parlament zur Abstimmung gestellt wurden, wurde zugestimmt. Soweit wir wissen, ist das das höchste Ergebnis der Welt – wir haben bisher 22 Gesetze geändert! So wissen wir zum Beispiel, dass auch die finnische Plattform für Bürgerinitiativen funktioniert – obwohl es einige Unterschiede zu unserer gibt –, dort bisher aber lediglich zwei von zwanzig Gesetzen verabschiedet wurden. Und die Petitionsplattform des britischen Parlaments hat bisher zu zigtausenden von Diskussionen und Debatten im Parlament geführt, jedoch noch zu praktisch keinen Gesetzesänderungen.

Was uns besonders auszeichnet, ist unser Qualitätssicherungssystem. Bevor etwas veröffentlicht wird, schauen wir uns den Vorschlag des/der AutorIn genau an und setzen uns mit jeder/jedem einzelnen in Verbindung. Manchmal wird alles perfekt gemacht und wir haben nichts hinzuzufügen, aber normalerweise gibt es noch Verbesserungsbedarf. Wir gehen dann den Vorschlag gründlich mit dem/der AutorIn durch und fragen beispielsweise: „Könnten Sie diesen Absatz neu formulieren? Denn das versteht so niemand", „Könntest du die Fakten zu diesem Teil überprüfen", "Kannst du dich an diesen Professor wenden und deine Aussage mit ihm überprüfen", „Oder an diese ExpertInnen aus dem Ministerium oder dieser Organisation oder sogar diesem privaten Unternehmen..."? Wichtig anzumerken ist jedoch, dass alle Entscheidungen transparent sind. Das sind keine willkürlichen Entscheidungen; diese Regeln sind auch für uns verbindlich: Wir veröffentlichen auch Dinge, die uns nicht gefallen. Denn es geht hier nicht um unseren Geschmack oder politische Präferenzen: Wir stellen nur den Rahmen zur Verfügung.

Wir nehmen jedoch auch wahr, dass die Redefreiheit in der Welt genutzt wird, um der Demokratie zu schaden, deshalb sorgen wir dafür, dass kein „Neo-Hitler“ oder „Neostalinist“ oder eine andere Gruppe unsere Plattform nutzen wird, um die Demokratie direkt oder indirekt anzugreifen. Wenn wir Auffälligkeiten erkennen, prüfen wir genauer nach und lehnen Veröffentlichung gegebenenfalls auch ab.

Unsere Hauptregeln beinhalten auf jeden Fall, dass Kernbestandteile der lettischen Verfassung respektiert werden müssen – so kann man bspw. vorschlagen, die Hymne zu ändern, denn das greift die Staatlichkeit oder die Demokratie nicht an, aber wenn man vorschlagen würde, einen Kaiser auf Lebenszeit zu wählen, wird das nicht veröffentlicht. Die zweite Regel ist, dass wir nichts veröffentlichen, was die Staatlichkeit Lettlands direkt angreift: darunter fällt bspw. die Grenzen zu ändern oder alles im Zusammenhang mit finanziellen Zuwendungen an andere Länder. Drittens, und wahrscheinlich unsere wichtigste Regel ist, dass die Vorschläge realistisch sein müssen. So wurde beispielsweise vorgeschlagen, dass die lettische Armee Kernwaffen entwickeln solle. Wir haben dann die/den AutorIn gebeten, den Haushaltsbedarf und die Herkunft dieser Mittel zu erläutern, da der Vorschlag realistisch sein muss. Und natürlich konnte die/der AutorIn nicht beschreiben, wie die Haushaltsmittel für diese Idee aussehen würden und so haben wir sie nicht veröffentlicht. Wir stellen nicht inhaltlich die Idee der Kernwaffen in Frage, aber prüfen sie eben hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit. Der Vorschlag muss für den lettischen Staat auch umsetzbar sein.

Aber gleichzeitig könnte ich erwähnen, welche Initiativen aufgegriffen und umgesetzt wurden: Zusätzliche Mittel für die Krebsbehandlung, zusätzliche Mittel für Hepatitis C, Änderungen der Vorschriften über Unternehmenssteuern, zusätzliche Vorschriften für Parlamentsmitglieder, die ihre Eide brechen...

Wir bewerten unsere Ergebnisse also danach, wie viele Gesetze zur Abstimmung gebracht wurden. Das bedeutet nicht, dass das Parlament sie alle akzeptieren muss, das wäre absurd. Aber wir versuchen, das Parlament dazu zu bringen, dass es zumindest einen Dialog, eine Erklärung gibt. Es muss ein ordentliches Verfahren geben.

Lettland hat zwei Millionen EinwohnerInnen und 227.000 Menschen haben unsere Plattform bereits mindestens einmal genutzt. Wir verwenden nur sichere Autorisierungsmethoden über Banken und mit digitaler Signatur. Deshalb können wir von unserer Plattform eindeutig behaupten, dass es sich um keine Troll-Zone handelt. Bei uns gilt das Prinzip Eine-Person-Eine-Stimme. Kein/keine PolitikerIn, soweit ich weiß, hat jemals öffentlich behauptet, dass es sich bei unserer Plattform lediglich um eine zu vernachlässigende Online-Geschichte handelt. Man respektiert uns!

 

ManaBalss begann als private Initiative, als Idee, die von nur zwei Personen auf den Weg gebracht wurde und schließlich vom Parlament als offizielles Petitionsinstrument übernommen wurde. Wie kam es dazu?

ManaBalss ist nach wie vor nichtstaatlich. Wir sind immer noch unabhängig vom Parlament. Wir betonen gerne, dass wir alle Parteien gleichermaßen leidenschaftlich lieben und von allen gleich weit entfernt sind. Aber ja, das fing mit zwei Typen an, die von digitalen Referenden geträumt haben. Wie sich herausstellte, war die Regierung nicht sonderlich an digitalen Referenden interessiert, das war ihr im Grunde genommen viel zu riskant – aber digitale Gesetzesvorschläge, ja! Und das war eine erstaunliche Wahl. Es dauerte Monate der Vorbereitung und es waren diverse AkteurInnen involviert: ExpertInnen mussten befragt werden, BeraterInnen wurden involviert... Dieser Prozess dauerte sehr lange, bevor mit dem Projekt an die Öffentlichkeit gegangen wurde. Aber als es dann an die Öffentlichkeit ging, sprach der Premierminister bereits drei Tage später darüber. Alle PolitikerInnen waren im Prinzip sofort an Bord und sagten über die ersten beiden Initiativen, die veröffentlicht wurden, "Ja, wir werden diese Vorschläge umsetzen, wenn 10.000 BürgerInnen unterschreiben".

Die langfristige Vorbereitung des Projekts sorgte dafür, dass die Plattform von Anfang an effektiv arbeiten konnte. Sieben Jahre später berichtet die Presse heute eigentlich jeden Tag über Initiativen auf ManaBalss.

 

Welches sind eure größten Erfolge?

Wir haben eine Erfolgsquote von 64%, was sehr bemerkenswert ist und worauf wir stolz sein können. Bisher haben wir 22 Gesetzesänderungen erlebt, und es kommen weitere hinzu: Etwa 15 oder 16 Bürgerrechtsinitiativen werden derzeit im Parlament überprüft und wir wissen, dass einige von ihnen in Kraft treten werden. 227.000 Menschen haben die Plattform bereits mindestens einmal genutzt. Und das Tolle daran ist, dass wir uns größtenteils durch Spendengelder finanzieren, wir sind also nicht auf staatliche Mittel oder Zuschüsse angewiesen. Im vergangenen Jahr betrug unser Gesamtbudget bspw. 40.000 Euro, was nicht riesig ist, aber wovon allein 29.000 Euro Mikrospenden waren. Und das ermöglicht es uns, uns über Wasser zu halten. In den letzten drei Jahren haben rund 30.000 einzigartige Menschen etwas Geld an uns gespendet. Das ist, soweit ich weiß, auch weltweit einzigartig, weil es so viele Menschen sind (1,5% der Bevölkerung von 2 Millionen). Natürlich reicht das nicht aus, um große Sprünge zu machen. So gibt es bspw. keine zusätzlichen Mittel für ProgrammiererInnen, die wir wirklich brauchen würden, aber es reicht, um weiter zu machen.

Ein weiterer inhaltlicher Aspekt ist, dass bspw. in Finnland im Wesentlichen die Opposition die Plattform übernommen hat. Es handelt sich dabei um eine Regierungsplattform, die vom Justizministerium entwickelt und gepflegt wird. Sie war also zu keinem Zeitpunkt unabhängig. Außerdem müssen Sie dort gleich den vollständigen Gesetzestext ausformuliert vorlegen. Auf unserer Plattform hingegen können Vorschläge auch freier formuliert eingereicht werden, man muss also kein/keine AnwältIn sein, um sich zu beteiligen.

Man könnte also sagen, in Finnland ist die Petitionsplattform fest in der Hand der Opposition. Während bei uns von 300 Initiativen insgesamt nur etwa 15 von politischen Parteien initiiert wurden. Das liegt auch daran, dass wir von Parteien eine Spende verlangen, wenn sie unsere Seite nutzen wollen. Wir verbieten PolitikerInnen nicht die Beteiligung, wir haben es ihnen nur etwas schwerer, die Plattform zu nutzen und insgesamt respektieren sie das. Manchmal will ein/eine PolitikerIn einen Hype erzeugen, aber die Mehrheit unter ihnen akzeptiert tatsächlich, dass dies nicht Sinn und Zweck der Plattform ist. Die Beteiligung politischer Parteien konnte also wirksam begrenzt werden.

In diesem Jahr haben gleich zwei Parteien einen Vorschlag eingereicht und 1000 Euro gespendet, was zunächst etwas ungewöhnlich ist, sich aber damit erklären lässt, dass wir uns in einem Wahljahr befinden. Wir werden in unserem Newsletter und auf unserer Facebook-Seite jedoch nicht so viel über diese Vorschläge sprechen wie über andere Bürgerinitiativen. Weil, nun ja, das sollten die Parteien auch ganz gut ohne unsere Hilfe hinbekommen!

 

Auf europäischer Ebene gibt es die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die derzeit reformiert wird. UnionsbürgerInnen können der Europäischen Kommission damit Themen zur Beratung vorschlagen. Wie könnte die EBI deiner Meinung nach verbessert werden?

Offensichtlich ist es möglich ein System aufzubauen, in dem DurchschnittsbürgerInnen ohne NGO oder Partei im Hintergrund legislative Ideen vorschlagen können, die dann potenziell auch in tatsächliches Recht umgesetzt werden. Wenn das also in Lettland gelingt, dann ist das auch anderswo möglich. Dazu braucht es Vorbereitungszeit, Monate der Planung, VordenkerInnen müssen identifiziert, Verbände angesprochen, Vereinbarungen mit PolitikerInnen geschmiedet werden, es muss sich über den rechtlichen Rahmen geeinigt werden, es bedarf Personalplanung und PR-Vorbereitung usw.

Was jetzt in der EU passiert ist aus unserer Sicht jedoch etwas anderes. Wir wollen helfen, wir wollen uns einbringen, aber nicht in dem vorhandenen Rahmen. Wir wünschen uns echte Bürgerbeteiligung. Dazu braucht es die nötigen Ressourcen und es müssen die richtigen Leute in den richtigen Ländern identifiziert werden. Würden wir gefragt werden, wir würden ein Beteiligungsverfahren organisieren, dass zwar in enger Kooperation mit der EU ablaufen, jedoch grundsätzlich außerhalb der EU-Strukturen liegen würde.

Wir meinen damit, dass man eigentlich nicht erst ein Gesetz ändern müssen sollte, um zum Beispiel den deutschen Gesetzgeber auf demokratischen Druck aufmerksam zu machen. Denn es sollte kein Gesetz geben, das besagt, dass man das Gesetz ändern muss, wenn eine bestimmte Anzahl Menschen vor dem Parlament in Berlin demonstrieren. In einer Demokratie ergibt das keinen Sinn. Denn wie misst man demokratischen Druck? Aber es gibt tatsächlich eine kritische Anzahl an Stimmen, ab der das Parlament zuhören sollte. Wenn zwei Personen vor dem Parlament demonstrieren, darf dies nicht zu einer Gesetzesänderung führen, denn das ist eine lächerlich kleine Zahl. Aber wenn 100.000 Menschen demonstrieren, sollte darüber schon ernsthaft nachgedacht werden. Das reicht aus, um etwas auf die Tagesordnung zu setzen, um eine echte Abstimmung im Parlament zu erreichen. Vor dem Hintergrund digitalen Marketings behaupten wir, wenn eine bestimmte Anzahl ausreicht, um die europäischen Institutionen zum Zuhören zu bringen, dann können diese Stimmen auch organisiert werden, ohne an den bestehenden Rechtsvorschriften zur EBI etwas zu ändern. Das wäre ein demokratischer Dialog, auch wenn er nicht als spezifisches Verfahren geregelt ist. Wenn 100.000 Menschen im Zentrum Brüssels demonstrieren, könnte die Kommission das theoretisch ignorieren, weil es kein Verfahren gibt, aber das wäre undemokratisch. Wenn man also eine digitale Plattform hätte, die sicher ist, vertrauenswürdig und ein funktionierendes Qualitätssicherungssystem anwendet, dann ließe sich das auch so umsetzen.

Unser Methodenvorschlag für die Plattform der europäischen Bürgerinitiative lautet also: 2.500.000 Stimmen aus mindestens 7 Ländern, in denen jeweils ein funktionierendes ManaBalss.lv-System benutzt wird. Und wenn die Unterschriften gesammelt sind, muss es eine obligatorische Befassung und Abstimmung in der Europäischen Kommission oder im Europäischen Parlament geben. Es ist möglich, dass solche EU-Bürgerinitiativen für die erste obligatorische Abstimmung im Europäischen Rat gezielt eingesetzt werden. Wir sind uns sicher, dass ein solches Verfahren umgesetzt werden kann, aber dafür brauchen wir die richtigen PartnerInnen.

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