Es stimmt, dass vor kurzem eine Reihe von Petitionen gestartet wurde, die ein nationales Referendum fordern. Aber keine dieser Petitionen wurde mit der Absicht gestartet, eine echte Volksabstimmung auch durchzusetzen.
Nationale Initiativen und Referenden sind in Bulgarien eigentlich unmöglich. Zum letzten Mal wurde dies schonungslos im Jahr 2016 bewiesen auf enorme Kosten bürgerlicher Ressourcen und bürgerlichen Enthusiasmus, welcher sich nun in Apathie und Zynismus verwandelt.
Das nationale Referendum von 2016 war das erste bürgergeführte Referendum. Es war auch das erste, das sich mit den wesentlichen Fragen der Funktionsweise bzw. Funktionsstörung des politischen Systems befasste. Die Petenten - der beliebte Fernsehstar Slavi Trifonov und sein Team - schlugen Änderungen im Wahlsystem vor. Sie forderten Mehrheitswahlen statt des derzeitigen Verhältniswahlsystems sowie eine deutliche Reduzierung der exorbitanten öffentlichen Subventionen für politische Parteien. Die Mehrheit der bulgarischen Wähler (51%) kam zum Wahltag. Über 2,5 Millionen (über 70%) stimmten für diese Vorschläge.
Das Referendum brachte die legitimste Entscheidung in der bulgarischen Politik seit dem Untergang des Kommunismus, trotz der Blockaden und des unehrlichen Vorgehens des politischen Establishments. Der Gesetzgeber versuchte, die Regeln des Referendums während der Unterschriftenüberprüfung zu ändern! Die drei ersten Fragen zur Petition wurden gekürzt und die Wahlverwaltung bat um eine vollständige elektronische Kopie der Papierpetition. Das bedeutete, dass die Petenten die persönlichen Daten von 700.000 Unterzeichnern manuell in elektronische Dateien eingeben mussten. Gegen die Organisatoren wurde eine Verleumdungskampagne geführt und schließlich erhielten einige Wähler am Wahltag keine Referendumsstimmzettel, sondern nur jene für die zeitgleich stattfindenden Präsidentschaftswahlen.
Ungeachtet der hohen Rechtmäßigkeit des Ergebnisses wurde es vom Staat nicht anerkannt. Der formale Grund dafür war eine unzureichende Beteiligung. Für eine verbindliche Volksabstimmung verlangt das Referendumsgesetz, dass die Anzahl der Personen, die an der Volksabstimmung teilnimmt, gleich oder höher ist als die Zahl der Wähler, die an den vorhergegangenen Parlamentswahlen teilgenommen hatten. Zusätzlich wird die absolute Zahl und nicht der Prozentsatz der Bevölkerung gemessen. Es ist weltweit das einzige Quorum dieser Art in der bekannten Referendumsgesetzgebung. Die Zahl der Wähler bei den Parlamentswahlen 2014 lag bei 3.500.585 und dem Referendum 2016 fehlten 12.000 Teilnehmer zur Erreichung dieser Grenze. Dass dies Grund zur Missachtung des Referendums war, ist absurd, vor allem wenn man die negative demographische Tendenz berücksichtigt. Die "ausreichende" Anzahl an Wählern bei den Parlamentswahlen 2014 repräsentierte nur 48% der Wähler, während die "unzureichende" Wahlbeteiligung im Jahr 2016 51% der Wahlberechtigten ausmachte!
Eine nicht bindende direkte Entscheidung durch die bulgarischen Bürger ist per Gesetz verpflichtet zur endgültigen Entscheidung an den Gesetzgeber zurückzugehen. Diese spezifische Bestimmung des Referendumsgesetzes wurde jedoch vom bulgarischen Parlament nicht eingehalten. Die Abgeordneten haben ihre Augen vor dem Willen des Volkes und der Rechtsstaatlichkeit verschlossen. Sie haben nie über das Ergebnis des Referendums diskutiert und keinerlei Entscheidung wurde bezüglich der Referendumsvorschläge getroffen. Keinerlei Hinweis auf eine Wahlreform. Keinen Cent weniger öffentliche Subventionen für die Fraktionen.
Ein von Ausschüssen und Petenten an den Nationalen Bürgerbeauftragten gerichteter Appell zur Verfassungswidrigkeit der Wahlbeteiligungsvorschrift wurde zurückgestellt und wartet seit über einem halben Jahr auf eine Antwort.
Seit dem demokratischen Übergang haben drei Volksabstimmungen stattgefunden, von denen keine formell gültig oder politisch anerkannt wurde. Die sehr frustrierende Erfahrung der bulgarischen Wähler mit nationalen Referenden hat die zunehmende Desillusionierung über das politische System und die "demokratische" Herrschaft des Landes mit weiterer Enttäuschung verstärkt. Nach 28 Jahren Demokratisierung ist es Bulgarien nicht gelungen, zu einer konsolidierten Demokratie zu werden. Außerdem ist das Land in den letzten zehn Jahren aufgrund der zunehmenden Schwäche der demokratischen Institutionen, des schleichenden Autoritarismus, der Korruption und der Missachtung der Rechtsstaatlichkeit in den Demokratieindizes gesunken. Ein großes Manko der defekten bulgarischen Demokratie ist die Entmachtung der Bürger im Hinblick auf sinnvolle Beteiligung an der Politikgestaltung.
In diesem Frühjahr wurden erneut nationale Referenden und neue Kampagnen zur Sammlung von Unterschriften gefordert. Alle wurden von politischen Parteien ins Leben gerufen, von denen einige maßgeblich an der Entstehung des absurden Referendumsgesetzes beteiligt waren. Petitionen werden jedoch von den Passanten auf der Straße meist ignoriert. Die Menschen wissen aus Erfahrung, dass sie die Mühe nicht wert sind.
Durch die Verfassung als bevollmächtigendes Instrument in den Händen der Wähler gedacht, wurden nationale Referenden de facto von Parteien und Politikern gekapert. Die Gefangennahme funktioniert auf zweierlei Weise: Die vom politischen Establishment erlassene ausschließende Gesetzgebung sichert das Scheitern jeglicher "Rebellion" oder Reform von unten und behält es gleichzeitig Parteien vor Initiativen und Referenden als populistisches Instrument zu nutzen, um an Ansehen und Legitimität zu gewinnen.
Eingeladen von einer Gruppe von Bürgerrechtlern aus dem benachbarten Griechenland, um über die heutige Funktionsweise direkter Demokratie in meinem Land zu sprechen, musste ich etwas Positives anbieten, um dieses düstere Bild aufzuhellen. "Die gute Nachricht über die nationalen Referenden in Bulgarien ist, dass sie die Zeitlosigkeit Ihrer alten Mythen bewiesen haben", sagte ich, "es braucht einen Herkules, einen Halbgott (in unserem Fall einen Fernsehstar), um die Arbeit der Unterschriftensammlung zu bewältigen und all die furchterregenden Monster auf dem Weg zur Volksabstimmung zu töten. Und als Herkules am Ende des Weges ankommt und denkt, dass er gewonnen hat, stellt sich heraus, dass er kein siegreicher Herkules ist, sondern ein verdammter Sisyphos, der es satthat, den Felsen bergauf zu schieben und nichts zu erreichen."