Es versteht sich von selbst, dass mehr Demokratie besser ist als weniger. Allerdings führten jüngste Entwicklungen der globalen Demokratie zu den vielfältigsten Interpretationen von mehr oder weniger Demokratie. Machtkonzentration, reduzierte oder stark eingeschränkte Gewaltenteilung sind Resultat „demokratischer“ Wahlen. Beispiele hierfür sind die USA, Russland, Polen, Ungarn und die Türkei. Der Wunsch nach einer dominanten AnführerIn ohne begrenzte Amtszeit, der/die fähig ist die „Wünsche des Volkes zu erfüllen“, sowie komplizierte und undurchsichtige politische Prozesse zu bewältigen, scheint zu wachsen, wie Meinungsumfragen in Österreich und anderen Ländern zeigen.
Gleichzeitig steigt die Anzahl von Referenden und partizipatorischen Prozessen - sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Widersprüchlich erscheint das Ergebnis von umso stärkeren Konflikten zwischen den Wenigen, die über Regierungsmacht verfügen und den Vielen, die kaum politische Macht haben.
Die Repräsentativität der bestehenden politischen Systeme wird immer häufiger in Frage gestellt. Insbesondere moderne, westliche parlamentarisch-demokratische Systeme werden skeptischer betrachtet. Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Wunsch nach mehr Einfluss auf Richtlinien, die die Bevölkerung direkt betreffen, steigt. Die Menschen möchten sich politisch (nicht jedoch parteilich) engagieren und auch an gewählten Gremien, wie Parlamente, festhalten. Jedoch sollen gewählte Ämter mehr für die BürgerInnen arbeiten und weniger für spezielle Interessengruppen oder parteiliche und persönliche Karriereinteressen. Insgesamt muss das repräsentative-demokratische System repräsentativer werden, als es derzeit ist.
Die (zu) mächtigen AnführerInnen reagieren mit von oben eingeleiteten beratenden Referenden auf die Wünsche der BürgerInnen – die Ergebnisse bleiben in den Händen der PräsidentInnen, KanzlerInnen und Parlamenten. Die Problematik über die entschieden wird, der Wortlaut der Fragen und der Zeitpunkt liegen vollständig in den Händen der wenigen Regierenden. Von den Vielen wird lediglich erwartet, diese Entscheidungen zu rechtfertigen und zu legitimieren. Ein anderer Ansatz, mit der wachsenden Nachfrage nach mehr Demokratie umzugehen, sind beratende, nicht-bindende partizipatorische Prozesse, die als Ventil für den steigenden demokratische Druck dienen. Diese Prozesse sind häufig einzig und allein auf die lokale Ebene beschränkt. Umstrittene, nationale Entscheidungen zu Themen wie etwa die Bankenrettung mit Hilfe von Steuergeldern, Budgets sowie Militär- und Sicherheitsentscheidungen werden außen vor gelassen. Bei dieser Form der „direkten Demokratie“ und partizipatorischer Vorgänge werden die Spielregeln von denjenigen gestaltet, die bereits Macht haben – die wenigen Regierenden. Die meisten Verfassungen und Regeln des Gesetzgebungsprozesses wurden von ParteimitgliederInnen, Regierungen und deren ExpertInnen eingeführt.
Allerdings gibt es Hoffnung, dass die wachsende Nachfrage nach wahrer, ehrlicher Demokratie auf Seiten der Vielen, des Sovereigns, des Volkes, ihren Durchbruch haben wird. Immer mehr PolitikerInnen, insbesondere von neu entstandenen Parteien, sind bereit diese Bewegung zu unterstützen. Gleichzeitig könnten Repräsentierende der Regierung Wahlniederlagen befürchten, wenn sie wahre Demokratie ablehnen. Als BefürworterInnen und ExpertInnen der direkten Demokratie ist es in unserer Verantwortung diese Bewegung mit Kompetenz und präzisen Vorschlägen anzuleiten und zu unterstützen.
Eine Kombination von deliberativen Bürgerversammlungen und bindenden Referenden ist entscheidend für diese Bewegung. Auf der einen Seite stehen die Bürgerversammlungen, die zufällig ausgewählten, gewöhnlichen BürgerInnen die Möglichkeit bieten, relevante und neutrale Informationen zu erhalten und sich eine Meinung zu Themen zu bilden. Bindende Referenden, die von Bürgern initiiert werden, stellen die andere wichtige Seite der Demokratie Münze dar. Bei beiden Instrumenten, ist es wichtig, dass das Volk die Möglichkeit hat den Prozess zu initiieren, Themen auszuwählen, über Wortlaut der Empfehlungen und Referendumsfragen zu entscheiden, sowie den Zeitpunkt dieser politischen Prozesse zu bestimmen.
Das „Bürgergutachten“ in Deutschland wie es von Mehr Demokratie zur Reform vorgeschlagen wurde, die Einführung der direkten Demokratie auf der deutschen Bundesebene, sowie neue mögliche Bürgerversammlungen in Österreich können an Erfahrungen anderer Länder anknüpfen. Hierzu zählen die Bürgerversammlungen in British Columbia, Kanada 2004 und die Bürgerversammlungen in Irland im Jahr 2012 und 2018. Wie in Irland und British Columbia, sollten Bürgerversammlungen entweder in bundesweiten Verfassungsreferenden, bindenden Regelungen in der Entscheidungsfindung oder im Gesetzgebungsprozess münden. Dort wurden Vorschläge von den Bürgern aufgestellt und entschieden. Leider ist die mangelnde Implementierung der Empfehlungen in diesen beiden Fällen erneut ein Ergebnis der Regelungen, die von den Wenigen gemacht wurden: In Irland entscheiden Parlamente über beratende Bürgerversammlungen, während gültige Referenden in British Columbia ein 60% Zustimmungsquorum benötigen. Deshalb muss sich die erste Bürgerversammlung auf folgende Frage konzentrieren: Wer sollte die endgültige Entscheidung zu bestimmten Vorschlägen der Bürger fällen?