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Tunesiens Weg zur Freiheit wird nicht einfach sein: Interview mit Ghofran Vilquin

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Tunesiens Weg zur Freiheit wird nicht einfach sein: Interview mit Ghofran Vilquin

07-11-2023

In der Reihe "Country in Fokus" wirft Democracy International einen genaueren Blick auf die Entwicklung der modernen direkten Demokratie und Bürger:innenbeteiligung weltweit. Dieser Artikel ist Tunesien gewidmet und unterstützt die Webinarreihe "Ein Tag als Aktivist:in". Schauen Sie sich hier die Webinare noch einmal als Video an

 

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Ghofran Vilquin hat ihren Hintergrund in internationalem Menschenrecht und Öffentlichkeitspolitik, und ist eine engagierte Verfechterin von Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten. Ihr Werdegang ist von vielen transformativen Erfahrungen geprägt, die sie zu einer leidenschaftlichen Kämpferin für positive Veränderung in Tunesien gemacht haben. Ghofran hat bedeutsame Beiträge für renommierte Organisationen wie dem International Center for Transitional Justice, dem UNHCR und dem Europarat geleistet. 

 
Dieses Interview spiegelt die persönlichen Meinungen und Erfahrungen von Ghofran Vilquin wider, und nicht die der Institutionen, mit denen sie in der Vergangenheit oder in der Gegenwart in Verbindung stand und steht.
 
 
Wie sieht die politische Partizipationskultur in der tunesischen Gesellschaft aus? 
 
Am 25. Juli 2021 fand in Tunesien ein Staatsstreich statt, bei dem Kaïs Saïed das Parlament des Landes auflöste und den Premierminister entließ. Dieser Schritt löste Proteste aus und führte zu einem härteren Vorgehen gegenüber Oppositionellen und Kritiker:innen des Präsidenten. Vor allem die Ennahda-Partei, die seit der Revolution von 2011 eine wichtige Rolle in der tunesischen Politik spielt, wurde ins Visier genommen, und mehrere ihrer Mitglieder:innen wurden verhaftet.
 
 
Die Situation um politische Gefangene ist inzwischen zu einer großen Besorgnis für Menschenrechtsgruppen geworden. Rached Ghannouchi, Vorsitzender der Ennahda-Partei und prominenter Oppositioneller, wurde letzten April verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis. Diesen September trat er in den Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung und die Behandlung von anderen politischen Gefangenen zu protestieren. Ein weiteres Beispiel ist Ali Laarayedh: der ehemalige Premierminister und Vizepräsident der Oppositionspartei Ennahda ist seit Dezember 2022 inhaftiert, ohne je vor einem Gericht gestanden zu haben. Human Rights Watch berichtet von mehreren Fällen, in denen Personen ohne Rechtsgrundlage und ohne Zugang zu ihren Familien oder Anwält:innen inhaftiert worden sind.
 
Darüber hinaus hat der tunesische Journalist:innenverband erklärt, dass der Präsident inzwischen zum größten Feind der Pressefreiheit im Land geworden ist. Journalist:innen werden zunehmend eingeschränkt und eingeschüchtert, und es gibt Berichte von Verhaftungen und Schikanen gegenüber regierungskritischen Journalist:innen.
 
Wir können jedoch nicht über die Situation in Tunesien sprechen, ohne Minderheiten zu erwähnen. Der Diskurs von Kais Saieds hat ein Umfeld geschaffen, in dem Hass und Diskriminierung normalisiert, und schwarze Tunesier:innen und Migrant:innen in Gefahr gebracht werden. In einer Rede am 21. Februar 2023 äußerte sich Saied fremdenfeindlich gegenüber Migrant:innen aus der Subsahara, bezeichnete sie als Bedrohung für die "Struktur der Gesellschaft" Tunesiens und forderte "Sofortmaßnahmen", um den Zustrom von Migrant:innen zu stoppen. In den Tagen nach der Rede gab es Berichte über eine Zunahme an Gewalt gegenüber Schwarzen, darunter Übergriffe, Belästigungen und Vandalismus. Wir müssen uns daran erinnern, dass Tunesien im Jahr 2018 als erstes Land der MENA-Region ein Gesetz verabschiedet hat, welches Rassendiskriminierung unter Strafe stellt und betroffenen Opfern die Möglichkeit gibt, mit solchen Erfahrungen vor Gericht zu ziehen. Aber die seit dem Putsch erfolgende Normalisierung von Hassreden auf höchster staatlicher Ebene ist eine beunruhigende Erinnerung daran, dass noch viel zu tun bleibt, um Rassendiskriminierung in Tunesien endgültig zu beseitigen.
 
Diese rassistische Atmosphäre hatte schwerwiegende Folgen für die tunesische Wirtschaft. Mehrere Länder riefen zum Boykott tunesischer Produkte auf, und internationale Investoren, die ihr Geld in Tunesien investieren wollten, zögerten, da der Ruf Tunesiens als tolerante und integrative Gesellschaft nun beschädigt war. Die Beziehungen zu anderen afrikanischen Ländern wurden ebenfalls stark belastet, da viele afrikanische Staatsoberhäupter Besorgnis über die Sicherheit von afrikanischen Menschen in Tunesien äußerten.
 
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Entfernung von der Rassengleichheit das Image Tunesiens als regionale Bastion der Demokratie und der Menschenrechte stark beschädigt hat.
 
 
Sind die tunesischen Gesetze zur direkten Demokratie grundsätzlich effizient? 
 
Die Gesetze zur direkten Demokratie, die von Kaïs Saïed nach dem Staatsstreich in Tunesien eingeführt wurden, sind ineffizient und begrenzt.
 
Die beiden wichtigsten direktdemokratischen Instrumente, die den Bürger:innen zur Verfügung stehen, sind Behördenabstimmungen, die von Natur aus einen top-down Charakter haben. Diese ermöglichen zwar theoretisch ein gewisses Maß an Bürger:innenbeteiligung, bieten aber keinen wirklichen bottom-up Ansatz für die Demokratie, und stellen auch keine wirkliche direkte Demokratie dar. 
 
Außerdem sind diese Abstimmungen nicht verbindlich, so dass es im Ermessen der Regierung liegt, inwiefern sie die Ergebnisse der Abstimmung umsetzen. Das Fehlen verbindlicher Ergebnisse fördert das Misstrauen und Desinteresse der Bürger:innen. Insbesondere beim Referendum über Kais Saied lag die Wahlbeteiligung bei weniger als 30% der Wähler:innnen – und war somit relativ niedrig. 
 
Diese Situation stellt die Legitimität des Referendums und der neuen Verfassung, welche Präsident Saied mehr Macht eingeräumt hat, ernsthaft in Frage. Es kann vermutet werden, dass viele Tunesier:innen diese Veränderungen nicht unterstützen und stattdessen ein demokratischeres und integrativeres System vorziehen würden.
 
 
Welche Gesetzesänderungen gab es 2022 in Tunesien und was waren ihre Auswirkungen?
 
2022 erfolgten in Tunesien mehrere wichtige Gesetzesänderungen, insbesondere die Bereiche der Menschenrechte und des Wahlrechts betreffend. Eine der umstrittensten Änderungen war das Gesetzesdekret 2022-14, welches die Verbreitung "falscher oder inkorrekter Nachrichten oder Informationen" strafbar gemacht hat und als Bedrohung der Meinungsfreiheit kritisiert wird.
 
Eine weitere wichtige Änderung betrifft das neue Wahlgesetz, das ausschließlich dafür dient, das demokratisch gewählte Parlament, welches im Juli 2021 nach dem Selbstputsch von Präsident Saied aufgelöst wurde, zu ersetzen. Dieses neue Gesetz hat die Oppositionsparteien stark eingeschränkt und die tunesische Demokratie geschwächt. Das hat bei Menschenrechtsorganisationen und Demokratieverfechter:innen deutliche Besorgnis ausgelöst, da diese befürchten, dass sich das Land in Richtung Autoritarismus bewegt.
 
Wie beurteilen Sie das Plebiszit (oder das von den Behörden organisierte Referendum) im Jahr 2022 aus der Perspektive der direkten Demokratie?
 
Das tunesische Plebiszit von 2022 ist kein echtes Beispiel für direkte Demokratie, denn historisch betrachtet sind Plebiszite nie wirkliche demokratische Instrumente gewesen. Napoleon war dafür bekannt, Plebiszite dafür zu nutzen, um Unterstützung für seine Herrschaft zu gewinnen. Bis heute werden Plebiszite von Regimes als Mittel zur Legitimation von Politik genutzt, die nicht dem Willen des Volkes entspricht.
 
In Tunesien wurde das Plebiszit zwar von der Regierung als "Referendum" beschrieben, doch es gab keine sinnvollen öffentlichen Debatten unter Bürger:innen. Stattdessen wurde der Verfassungsentwurf vom Präsidenten allein ausgearbeitet. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass es sich nicht um einen wahrhaftig demokratischen Entscheidungsprozess handelt. Mit anderen Worten: es handelte sich hierbei um eine einseitig verordnete Veränderung, die vom Präsidenten aufgezwungen wurde – und nicht um einen wirklich inklusiven und partizipativen Prozess für die Bürger:innen.
 
 
Welche Rolle hat die Versammlung der Volksvertreter:innen gehabt und was bedeutete ihre Auflösung für die Partizipation von Bürger:innen?
 
Die Versammlung der Volksvertreter:innen (ARP) war die vom Volk gewählte nationale Legislative Tunesiens. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei dem Übergang des Landes nach der 2011 Revolution in die Demokratie, da die ARP die wichtigste Institution war, durch die Bürger:innen ihre politischen Ansichten äußern und an der Demokratie teilhaben konnten. Die ARP war eine wichtige Kontrollinstanz für die Macht der Exekutive und ermöglichte es den Bürger:innen, ihre gewählten Vertreter:innen zur Rechenschaft zu ziehen.
 
Das Parlament ist der Eckpfeiler jeder demokratischen Regierung, da es die Stimme des Volkes repräsentiert. Die Auflösung des Parlaments im Jahr 2021 war ein schwerer Schlag für die tunesische Demokratie. Ohne ein funktionsfähiges und transparent gewähltes Parlament kann ein Staat nicht wirklich demokratisch sein, da es ihm an den entscheidenden Elementen der Repräsentation und der demokratischen Rechenschaftspflicht fehlt. Im heutigen Tunesien gibt es für Bürger:innen einfach keine Möglichkeit mehr, an der Gestaltung von den Regeln mitzuwirken, die ihr Leben bestimmen. 
 
 
Glauben Sie, dass Tunesier:innen noch an die Demokratie glauben?
 
Es gibt sicherlich Hoffnung für die Zukunft der Demokratie in Tunesien, aber hierfür wird eine anhaltende Mobilisierung und ein ebensolcher Aktivismus nötig sein. Bei vielen Menschen ist die Erinnerung an die Revolution von 2011 noch frisch im Gedächtnis, und die darin verkörperte Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist ebenfalls nicht verblasst.
 
Die Tunesier:innen haben die Vorteile der Demokratie bereits kennengelernt: Meinungsfreiheit, politische Teilhabe, sowie offenere und transparentere Institutionen.
 
Sie haben angefangen zu verstehen, dass die Demokratie ein System ist, welches – wenn auch manchmal langsam und frustrierend – jeder repressiven Autokratie vorzuziehen wäre. Trotz ihrer Mängel wird Bürger:innen in einer Demokratie wenigstens eine Stimme und die Möglichkeit gegeben, an der Zukunft mitzuwirken.
 
Diktaturen hingegen bieten ein falsches Gefühl von Stabilität und Ordnung. Das Versprechen vom Wirtschaftswachstum, der den Staatsstreich rechtfertigen sollte, hat sich als leeres Versprechen bewiesen.
 
Ohne Zweifel sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Putsches zum Großteil negativ gewesen, und die Wirtschaft läuft seitdem bestenfalls schleppend. Die auf den Putsch folgende politische Instabilität hat Investoren misstrauisch gemacht, und die Regierung tut sich weiterhin schwer, das Wirtschaftswachstum durch effektive Maßnahmen anzukurbeln.
- Laut tunesischem Fremdenverkehrsamt sind seit dem Putsch im Juli 2021 die Einnahmen aus dem Tourismus um ca 40% zurückgegangen.
- Der tunesische Dinar hat gegenüber dem Dollar rund 20 % seines Wertes verloren.
- Nach Angaben der tunesischen Investitionsbehörde sind die ausländischen Investitionen im selben Zeitraum um etwa 25 % zurückgegangen.
- Die Inflationsrate liegt im September 2023 bei 9% - vergleichbar mit einer Inflationsrate von 5,71 % von vor dem Putsch.
Kurzum: die Tunesier haben das Gefühl, die Demokratie für eine Illusion des Überflusses geopfert zu haben – und dass sie nun einen steilen Preis dafür zahlen.
 
 
Wie stehen die Chancen, starke demokratische Institutionen – und das nötige Vertrauen in sie – wiederzugewinnen?
 
Es ist unrealistisch und gar verlogen zu denken, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institutionen unter einem autoritären Regime wiederhergestellt werden könnte. Dies würde nur den Interessen der Machthaber:innen dienen und die wahren Bedürfnisse und Bestrebungen des tunesischen Volkes vernachlässigen.
 
Die derzeitige politische Situation unter der Führung von Präsident Kaïs Saïed ist ein Irrweg und spiegelt in keiner Weise die Ideale des tunesischen Volkes wider. Sie entspricht nicht den Hoffnungen des Volkes, welches seit der Revolution von 2011 sein Engagement für Würde und Selbstbestimmung bewiesen hat.
 
Wenn sich die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen weiter verschlechtern, werden nur weitere Unruhen entstehen. Die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass Tunesier:innen auch bereit sind den Status Quo in Frage zu stellen, wenn sie das Gefühl haben, schließlich nichts mehr zu verlieren zu haben. Obwohl die Situation in Tunesien heute anders ist als in 2011 gibt es dennoch einige Ähnlichkeiten zur damaligen Lage – insbesondere im Hinblick auf die Beschwerden der Menschen und das Potenzial für kollektives Handeln gegen den amtierenden Despoten.
 
Die Tunesier:innen sind mit der Demokratie bestens vertraut, denn sie haben das Konzept während der Revolution 2011 im Grunde neu erfunden. Auch wenn der Weg zurück in die Freiheit nicht einfach sein wird, haben sie der Welt bereits gezeigt, dass sie für ihre demokratischen Rechte kämpfen können. Ich bin zuversichtlich und hoffe, dass die Demokratie in Tunesien in naher Zukunft wiederhergestellt werden kann – denn wir wissen ja bereits, dass die Tunesier:innen über ein starkes demokratisches Fundament verfügen.
 
 

Dieser Artikel wurde im Zusammenhang mit the Life as an activist geschrieben. Fünf Länder, fünf Demokratie-Aktivist:innen, fünf Mini-Dokumentationen! Das folgende Video ist die Dokumentation des Projekts "Life as an activist".

Mini-Dokumentation: Erleben Sie durch Hichems Augen die Realitäten und Herausforderungen des Demokratie-Aktivismus in Tunesien.
 

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