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Tunesien: Abkehr von der Demokratie

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Tunesien: Abkehr von der Demokratie

06-09-2022

Tunesien, das einst als einzige Demokratie galt, die aus den Massenprotesten des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 hervorging, muss nun erhebliche Rückschläge auf seinem Weg zur Demokratie hinnehmen. In einem Referendum am 16. August nahm Tunesien eine neue Verfassung an, mit der ein Präsidialsystem ohne Kontrolle über die Macht des Präsidenten eingeführt wurde - trotz niedriger Wahlbeteiligung und mit wenig Debatte oder öffentlicher Beteiligung.

Der Übergang zur Demokratie in Tunesien begann mit dem Tod von Mohamed Bouazizi. In einem Akt schierer Verzweiflung und aus Protest gegen die Demütigung und Misshandlung durch die örtlichen Behörden beging der tunesische Obstverkäufer in der Stadt Sidi Bouzid durch Selbstverbrennung Selbstmord und löste damit den Arabischen Frühling aus. Die ausgelöste Revolution richtete sich gegen Unterdrückung, Korruption und wirtschaftliche Not unter dem autoritären Regime Ben Alis und führte zu großen Unruhen in Tunesien. Tausende Demonstranten forderten politische Freiheit, wirtschaftliche Chancen und Selbstbestimmung. Als Ergebnis des zivilen Widerstands wurde 2014 eine demokratische Verfassung eingeführt, die freie und faire Wahlen ermöglicht.

Machtkämpfe innerhalb der Regierung, häufige Regierungswechsel, eine zersplitterte Parteien-Landschaft und weit verbreitete Korruption sowie eine anhaltende Wirtschaftskrise trugen jedoch dazu bei, den demokratischen Reformprozess zu verzögern. Die Lebensbedingungen der Tunesier*innen haben sich seit den politischen Veränderungen vor zehn Jahren kaum verbessert. Die wachsende Unzufriedenheit der tunesischen Öffentlichkeit führte zu einem Erdrutschsieg von Präsident Kais Saied, einem Außenseiter ohne jegliche politische Erfahrung. Ab diesem Zeitpunkt vollzog Tunesien eine Kehrtwende, indem es sich vom Demokratisierungsprozess abwandte und all seine demokratischen Errungenschaften verlor. Viele Tunesierinnen und Tunesier sahen in Saied zunehmend eine Bedrohung für die tunesische Demokratie und Bürgerrechte, was zu immer mehr Protesten von politischen Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft und Frauenrechtsgruppen führte.

Ende Juli 2021 nahm Präsident Saied die landesweiten Proteste gegen die Politik der Regierung und deren Umgang mit der COVID-19-Krise zum Anlass, die Macht des Präsidenten auszuweiten, indem er die Regierungsgeschäfte übernahm, den Premierminister entließ und das Parlament auf Eis legte. Darüber hinaus kündigte Saied eine teilweise Aussetzung der Verfassung von 2014 an. Viele Expert*innen und auch unser tunesisches Mitglied - das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte - bezeichnen Saieds Vorgehen als illegalen "Verfassungsputsch". 

Später im Jahr 2021 legte Saied einen neuen politischen Fahrplan für Tunesien vor, der auch ein Referendum über eine neue Verfassung vorsah. Ein Entwurf der neuen Verfassung wurde am 30. Juni 2022 im tunesischen Amtsblatt veröffentlicht und später durch 46 Änderungen ergänzt, von denen keine die praktisch unbegrenzte Macht des Präsidenten einschränkte. Sie sieht ein vollständiges Präsidialsystem vor, in dem der Präsident die oberste Autorität über die Regierung und die Justiz hat. Demnach wäre die Regierung dem Präsidenten und nicht dem Parlament verantwortlich. 

Trotz des fehlenden transparenten Prozesses und des begrenzten Raums für eine angemessene öffentliche Debatte während der Ausarbeitung fand das Referendum über die vorgeschlagene neue Verfassung am 25. Juli 2022 statt, ein Jahr nachdem Präsident Saied das Parlament aufgelöst und sich selbst das alleinige Recht eingeräumt hatte, per Dekret zu regieren. Die tunesische ISIE - die von Präsident Kais Saied kontrollierte Wahlkommission - erklärte, dass nach den vorläufigen Ergebnissen 95 % der Wähler*innen bei dem Verfassungsreferendum mit „Ja“ gestimmt haben. Allerdings hat nur etwa ein Drittel der 9,3 Millionen registrierten Wähler*innen ihre Stimme abgegeben. Trotz der geringen Wahlbeteiligung und der Tatsache, dass fast 70 % der Wahlberechtigten das Referendum boykottierten, sind die Ergebnisse verbindlich, da es keine gesetzliche Vorgabe für eine Mindestbeteiligung gab.

Dementsprechend stellt das tunesische Mitglied von Democracy International fest, dass es "realistischerweise keine politische Alternative zur derzeitigen Situation gibt", hofft aber "auf eine Rückkehr zu einem demokratischen Leben in Tunesien".

Die Verfassung wird dem Präsidenten weitreichende Befugnisse einräumen und birgt die Gefahr einer Rückkehr zu einer autoritären Herrschaft in der Geburtsstätte des arabischen Frühlings. Dennoch hat die tunesische Zivilgesellschaft seit 2011 eine Schlüsselrolle dabei gespielt, den Weg für einen demokratischen Übergang zu ebnen. In den letzten Jahren haben die Zivilbewegungen maßgeblich dazu beigetragen, Saied die Stirn zu bieten, indem sie Proteste und Boykotte als Reaktion auf den demokratischen Rückschritt organisierten. Derzeit protestieren Tausende von Tunesier*innen gegen Präsident Kais Saied und fordern die Rückkehr zur demokratischen Ordnung. Auch wenn es in der gegenwärtigen Situation schwer ist, optimistisch in die Zukunft zu blicken, können wir hoffen, dass die tunesische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für die Demokratie nicht nachlässt und die Freiheit und Würde erhält, die sie fordert und verdient.

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