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Zukünftige Wahlen und lokale direkte Demokratie in der Ukraine: Interview mit Julia Kyrychenko

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Zukünftige Wahlen und lokale direkte Demokratie in der Ukraine: Interview mit Julia Kyrychenko

05-06-2023

In der Rubrik "Länder im Fokus" wirft Democracy International einen genaueren Blick auf die Fortschritte der modernen direkten Demokratie und der Bürgerbeteiligung weltweit. Nach einer mehrjährigen Pause begrüßen wir diese Rubrik wieder! In diesem Monat liegt der Schwerpunkt auf der Ukraine.

Im Interview spricht Julia Kyrychenko über lokale und nationale direkte Demokratie in der Ukraine, Wahlen in der Nachkriegszeit und die Rolle der direkten Demokratie im ukrainischen System. Julia Kyrychenko ist Vorstandsmitglied des Zentrums für Politik- und Rechtsreform und Mitglied des Vorstands, Expertin und Leiterin der "group on the constitutional reform of the Reanimation Package of Reforms". Sie ist spezialisiert auf Fragen der Wahl- und Referendumsgesetzgebung.

Interview geführt von Anna Proskurina

 

Gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des

Welche bottom-up Instrumente der direkten Demokratie gab es und gibt es derzeit, und wie können sie genutzt werden?

In der Ukraine gibt es traditionell zwei Hauptformen der direkten Demokratie: Wahlen und Volksabstimmungen. Nationale Wahlen, bei denen der:die Präsident:in oder das Parlament gewählt werden und Kommunalwahlen. Das Instrument der Wahlen funktionierte recht gut und wurde von internationalen Missionen als den internationalen Standards entsprechend anerkannt. Seit 2014 (als Russland vorübergehend die Krim und Teile der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk besetzte - Anm. d. Red.) konnten in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten keine Wahlen abgehalten werden. Gemäß der Entscheidung der Zentralen Wahlkommission, die ihre Entscheidung auf Grundlage der Empfehlungen des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates traf, wurden die Kommunal- und Parlamentswahlen nicht in den Gebieten der Gemeinden abgehalten, die an der Kontaktlinie lagen. Es handelt sich um Gemeinden, in denen zivil-militärische Verwaltungen eingerichtet worden sind.

Seit dem vollständigen Einmarsch der Russischen Föderation am 24. Februar 2022 und bis heute hat es in der Ukraine keine regulären Parlaments-, Präsident:innenschafts- oder Kommunalwahlen gegeben. Für den Fall, dass ein Bedarf danach entstehen sollte, enthält die ukrainische Verfassung jedoch eine eindeutige Regelung, dass während der Verhängung des Kriegsrechts oder des Ausnahmezustands keine Wahlen abgehalten werden dürfen. Nach dem Wahlgesetz müssen nach Ende des Kriegsrechts innerhalb von zwei Monaten Wahlen einberufen und abgehalten werden.

Derzeit wird in der Ukraine aktiv über die Parlamentswahlen diskutiert, die am 29. Oktober 2023 abgehalten werden sollen. Wenn das Kriegsrecht verhängt wird, finden die Wahlen natürlich nicht statt, sondern werden bis zum Ende des Krieges verschoben. Der Nationale Sicherheitsrat sollte prüfen, in welchen Gebieten nach Beendigung des Krieges Wahlen abgehalten werden können. Die Antwort ausländischer Expert:innen lautet, dass in den Gebieten, die seit 2014, d.h. seit einer langen Zeit,  nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehen, frühestens in zwei Jahren Wahlen stattfinden werden. Denn zunächst muss die zivile Infrastruktur vollständig wiederhergestellt und insbesondere die Redefreiheit gewährleistet werden. Erst dann können wir über die Abhaltung demokratischer Wahlen sprechen.

Das zweite Instrument, das in der Verfassung verankert ist, sind lokale und nationale Volksabstimmungen. Lokale Volksabstimmungen waren bisher jedoch nicht möglich, da seit 2008 kein Gesetz über lokale Volksabstimmungen eingeführt wurde. Unter dem Janukowitsch-Regime (Präsident der Ukraine von 2010 bis 2014, der im Zuge der Revolution der Würde oder des Euromaidan aus dem Amt gedrängt wurde - Anm. d. Red.) wurde ein Gesetz über ein All-ukrainisches Referendum verabschiedet, welches das Gesetz von 1991 über All-ukrainische und lokale Referenden ersetzt. Das derzeitige Parlament hat dieses Problem erkannt und die politische Entscheidung getroffen, ein Gesetz für lokale Volksabstimmungen zu schaffen. Eine parlamentarische Arbeitsgruppe für Demokratie hat ein Gesetz über lokale Volksabstimmungen ausgearbeitet, das von der Venedig-Kommission recht positiv bewertet wurde. Das Parlament hat die Einführung nun wegen des Krieges verschoben. Während des Kriegszustandes können keine Volksabstimmungen und auch keine Wahlen abgehalten werden.

Wie sehen Sie das Zusammenspiel von repräsentativer, direkter und partizipativer Demokratie in der Ukraine?

Diese Instrumente der Bürger:innenbeteiligung - partizipativ und direkt - sollten sich harmonisch in die repräsentative Demokratie einfügen und zu einer stärkeren Beteiligung der Bürger:innen beitragen. Ich schätze den Erfolg  der direkten Demokratie durch lokale Referenden, die nur auf kommunaler Ebene abgehalten werden, größer ein, wie es der Gesetzentwurf über lokale Referenden derzeit vorsieht. Es ist die kommunale Ebene, auf der lokale Fragen auftauchen, die die Menschen verstehen.

Wie sehen Sie die Rolle der direkten Demokratie im ukrainischen System?

Wir werden auf jeden Fall eine schwierige Phase der Nachkriegswahlen erleben, in der wir das Wahlrecht für Binnenvertriebene und Menschen, die das ukrainische Staatsgebiet verlassen mussten und nicht sofort zurückkehren können, sicherstellen müssen. Erstens gibt es zwei neue Faktoren, nämlich weitreichende Migrationsprozesse und die Zerstörung der Infrastruktur, einschließlich der Wahleinrichtungen. Zweitens war die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 gezwungen, das staatliche Wähler:innenregister aus Sicherheitsgründen zu schließen, und es wurde nicht wieder geöffnet. Das Hauptproblem wird also die Aktualisierung des staatlichen Wähler:innenregisters sein, die mindestens zwei bis drei Monate dauern wird. Die erste Aufgabe besteht also darin, legitime Parlaments- und Präsident:innenschaftswahlen zu gewährleisten. Der nächste Schritt wird die Ablösung der Militärverwaltungen durch Kommunalwahlen sein.

Auch die Verabschiedung eines Gesetzes über lokale Volksabstimmungen sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden. Während des Krieges wurde eine Umfrage unter den Gemeinden und Kommunalverwaltungen durchgeführt. Der Umfrage zufolge stand der Entwurf eines Gesetzes über lokale Volksabstimmungen ganz oben auf der Liste der Erwartungen der Gemeindebewohner:innen. Ich sehe die Entwicklung der direkten Demokratie in diesem Gesetz und in lokalen, nicht in nationalen Volksabstimmungen.

Wie beurteilen Sie das Gesetz über das All-ukrainische Referendum? Inwieweit ist es verständlich, zugänglich und für die Bürger:innen und die Zivilgesellschaft nutzbar?

Ich bewerte es recht positiv, weil es relativ offen erarbeitet wurde und alle Stakeholder einbezogen wurden. Insbesondere basierte es auf einem Gesetzesentwurf, den eine Arbeitsgruppe unter meiner Leitung nach der Revolution der Würde entwickelte. Der Inhalt war durchaus korrekt formuliert, und es wurde das Recht eingeräumt, ein Gesetz des Parlaments durch eine Volksinitiative aufzuheben, was neu war. Der Grund für diese Änderung war ein undemokratisches Gesetz, das die Zivilgesellschaft einschränkte. Dieses Gesetz schleuste Janukowitsch während der Revolution der Würde durch das Parlament.

Leider hat die Ukraine durch den Krieg viele Bürger:innen verloren, und die Zahl von drei Millionen (Unterschriften, die für ein Referendum über eine Bürgerinitiative erforderlich sind - Anm. d. Red.) ist zu hoch. Sie sollte auf Grundlage des objektiven Bevölkerungsverlustes gesenkt werden. Dies kann nur durch eine Änderung der Verfassung geschehen.

Dieses Gesetz wird oft als sehr restriktiv für die Bürger:innen bewertet. Was sagen Sie zu solchen Einschätzungen? Warum halten Sie derartige Hürden für wichtig? Nach unserer Erfahrung machen hohe Hürden den Mechanismus der Bürgerinitiativen weniger zugänglich.

Die Frage des Beteiligungsquorums für die Gültigkeit des Referendums und des Zustimmungsquorums wurde heftig debattiert. In solch wichtigen Angelegenheiten, die keine Entscheidung durch ein Regierungsorgan erfordern, ist eine Mehrheit der Wähler:innen erforderlich, um eine Destabilisierung der Lage im Land zu vermeiden. Wenn es um eine beratende Abstimmung über eine Frage von nationaler Bedeutung geht, wurde vorgeschlagen, solche Quoren abzuschaffen. Aber der Standpunkt, dass es notwendig ist, die Verfahren für ein nationales Referendum zu vereinheitlichen, setzte sich durch.

Ich glaube, für die Ukraine ist es wichtig, solche Einschränkungen für verbindliche Referenden beizubehalten. Dies wird dazu beitragen, insbesondere in unserer posttraumatischen Gesellschaft die Befürchtung zu vermeiden, dass eine Minderheit eine wichtige Entscheidung fällt, die das ganze Land betrifft. Für ein konsultatives Referendum sollten die Anforderungen an das Quorum gesenkt, vielleicht sogar halbiert werden.

Die dreimonatige Frist war unserer Ansicht nach durchaus realistisch, da sie die Möglichkeit der elektronischen Unterschriftensammlung vorsah. Ein solches Hilfsmittel ist noch nicht entwickelt worden, aber die Zentrale Wahlkommission hat die Aufgabe, dieses Instrument zusammen mit dem Ministerium für digitale Transformation zu entwickeln. Derzeit sieht das Gesetz über das All-ukrainische Referendum nur die papiergestützte Möglichkeit der Unterschriftensammlung vor, da die digitale Ressource noch nicht entwickelt wurde.

Die ukrainische Regierung hat sich intensiv mit Rechtsexpert:innen zum Thema direkte Demokratie auseinandergesetzt und auch die Venedig-Kommission um eine Bewertung des Gesetzentwurfs über das All-ukrainische Referendum gebeten. Inwieweit wurden diese Bewertungen im endgültigen Gesetz berücksichtigt?

Die Ukraine hat sich mit jeder Empfehlung eingehend befasst und alles berücksichtigt, was möglich war. Es gab jedoch einige Empfehlungen, die nicht berücksichtigt werden konnten und von Vertretenden der Zivilgesellschaft abgelehnt wurden. So stellte die Kommission beispielsweise fest, dass die Position der Ukraine, keine Beobachter:innen aus dem Aggressorland, der Russischen Föderation, zuzulassen, diskriminierend sei. Für uns war klar, dass Beobachter:innen, die russische Staatsbürger:innen sind, die Situation eher destabilisieren, als ein Zeichen für einen demokratischen Prozess setzen würde. Die Umsetzung eines solchen Vorschlags würde der Ukraine als demokratischem Land nur schaden. Daher wurden einige Empfehlungen aufgrund dieser politischen Faktoren und der Verabschiedung des Gesetzes über das All-ukrainische Referendum im Jahr 2021 abgelehnt, während in den Regionen Donezk und Luhansk aktive Kampfhandlungen stattfanden.

Die Formulierung des Gesetzes in Bezug auf die Frage der nationalen Bedeutung wird oft als eher vage bewertet. Dementsprechend kann die Zentrale Wahlkommission einen ziemlich großen Einfluss auf die Entscheidung nehmen, ob die vorgeschlagene Frage wirklich von nationaler Bedeutung ist. Sehen Sie Probleme im Zusammenhang mit dieser Formulierung, mit denen die Bürger:innen konfrontiert werden könnten, wenn sie den Mechanismus möglicherweise nutzen? Wie wird die nationale Bedeutung bestimmt?

Um ehrlich zu sein, sehe ich nicht, dass die Zentrale Wahlkommission einen großen Ermessensspielraum bei der Entscheidung hat, ob ein Thema von nationaler Bedeutung ist oder nicht. Es gibt eine ganz klare Liste von Themen, zu denen kein All-ukrainische Referendum durchgeführt werden kann. Über alle Themen, die nicht auf dieser Liste der verbotenen Themen stehen und nicht auf die Ebene der lokalen Selbstverwaltung fallen, kann ein Referendum abgehalten werden. Wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Themas bestehen, über das die Initiativgruppe abstimmen lassen will, kann die Zentrale Wahlkommission das ukrainische Verfassungsgericht anrufen.

Heutzutage gibt es eine ganze Reihe von Trends in der direkten Demokratie. Was halten Sie von der Beteiligung der Bevölkerung am Gesetzgebungsprozess, z.B. in Form von Bürger:innenräten in der Nachkriegsukraine, und hatte die Regierung vor der Invasion solche Pläne?

Ich unterstütze die Räte, aber zunächst einmal plante die große Arbeitsgruppe für Demokratie im Parlament eine Verbesserung des Instruments der elektronischen Petition. Dieses Instrument hat einige erhebliche Nachteile, und wir wollten es und seine Wirksamkeit auf nationaler und lokaler Ebene bewerten. Wir haben auch über die Möglichkeit der Schaffung einer gesetzgeberischen Volksinitiative diskutiert. Außerdem wollten wir die bewährten Praktiken des Bürger:innenhaushalts auf alle Gemeinden ausweiten, da sich Bürger:innenhaushalte dort, wo sie eingeführt wurden, als sehr erfolgreich erwiesen haben.

Demokratie ist etwas, das für Ukrainer:innen sehr erstrebenswert ist, aber gleichzeitig ist das Wort "Referendum" aufgrund der russischen Pseudo-Referenden in der Ukraine oft, sagen wir mal, ein gewisser Stolperstein. Wie kann Ihrer Meinung nach die korrekte Anwendung der Instrumente der direkten Demokratie von unten nach oben gefördert werden, und wurde eine solche Aufklärungskampagne in der Ukraine bereits durchgeführt?

Ich würde nicht sagen, dass es heute in der Ukraine eine negative Einstellung zum Einsatz von Referenden gibt. Zunächst einmal hat die Zivilgesellschaft Informationskampagnen durchgeführt, damit die Menschen das Instrument des Referendums nicht mit den Pseudo-Referenden der Russischen Föderation verwechseln. Auch während des Krieges sagen die lokalen Gemeinschaften, dass der Gesetzentwurf über lokale Referenden für sie am wichtigsten ist. Es gab eine ganze Reihe von Projekten, die für das Funktionieren der kommunalen Selbstverwaltungsorgane wichtig waren. Die Tatsache, dass das lokale Referendum Vorrang hat, deutet darauf hin, dass die Gemeinden der Nutzung dieses Instruments recht positiv gegenüberstehen. Die Menschen glauben mehr an ihre Beteiligung und sehen mehr Möglichkeiten zur Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene.

Wie schätzen Sie die Aussichten für die Entwicklung der Demokratie und der direkten Demokratie in der Nachkriegsukraine ein?

Ich denke, dass sich das Instrument der lokalen Volksabstimmungen weiter entwickeln wird. Der Gesetzesentwurf ermöglicht sogar die vorzeitige Beendigung der Befugnisse der lokalen Behörden oder den Rücktritt des:r Vorsitzenden eines Gemeinderats auf kommunaler Ebene, das Instrument ist also ziemlich mächtig.

Im Hinblick auf die direkte Demokratie stellt sich vor allem die Frage, wie die Parlamentswahlen so sicher wie möglich durchgeführt werden können und wie das aktive Wahlrecht gewährleistet werden kann. Zumal wir nicht wissen, wo wie viele unserer Wähler:innen sind und welche Migrationsprozesse unmittelbar nach dem Ende des Kriegsrechts stattfinden werden. Natürlich verstehen wir auch die Gefahren, die aus der Russischen Föderation kommen. Sie wird sich einmischen und versuchen, zu beweisen, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, rechtmäßige Wahlen abzuhalten.

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