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Demokratie ist der einzige Akteur weit und breit

30-11-2023

In Land im Fokus wirft Democracy International einen genaueren Blick auf die Entwicklung moderner direkter Demokratie und Bürger:innenbeteiligung weltweit. Dieser Artikel ist Taiwan gewidmet und unterstützt die Webinarreihe "Life as an Activist". Die Webinare können Sie hier ansehen.

Yen-tu Su ist forschender Professor am Academia Sinica Institute of Law. Seine Forschungsgebiete sind das Demokratierecht, Verfassungsrecht und das Verhalten der Justiz.

Können Sie etwas zur politischen Kultur und Partizipation in Taiwan sagen und wie der demokratische Übergang so erfolgreich verlaufen ist?

Taiwan ist heute eine echte Demokratie. Aber zuvor wurde fast 40 Jahre lang autoritär geherrscht, und noch davor gab es 50 Jahre lang die japanische Kolonialherrschaft. Das taiwanesische Volk strebt seit mehr als einem Jahrhundert nach Demokratie. Schon als Taiwan noch unter japanischer Herrschaft stand, wollten die Menschen das Recht haben, sich selbst zu regieren. Doch erst als Taiwan sich Anfang der 1990er Jahre von einem autoritären Regime in eine Wahldemokratie verwandelte, wurde der demokratische Traum Wirklichkeit. Es war ein langer Weg, eine lange Reise, auf der viele Menschen ihr Leben oder ihre Freiheit in dem Kampf um die Demokratie geopfert haben.

 

Schauen Sie auch unser Webinar zum Thema Taiwan und Ostasien an: "Demokratisierung als Selbstverteidigung, Desinformation und Aktivismus im Journalismus".

 

Eine Sache, die Taiwan von anderen Demokratien unterscheidet, ist, dass wir eine ziemlich gute Wahlbeteiligung haben. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung in Taiwan liegt bei etwa 67 Prozent und ist damit höher als in vielen reifen Demokratien. Ich würde sagen, einer der Gründe dafür ist, dass wir das Wahlrecht wirklich schätzen. 

Ein weiteres Merkmal der Demokratie in Taiwan ist, dass sie sehr lebendig ist. Es gibt viele Proteste auf der Straße und sogar Schlägereien im Parlament. 
Erwähnenswert ist auch, dass Taiwan neben der repräsentativen Demokratie auch über recht solide direktdemokratische Institutionen verfügt.

 

Welche Veränderungen hat die Sunflower-Bewegung Ihrer Meinung nach für Aktivismus und Demokratie in Taiwan gebracht?

Die Sunflower-Bewegung fand im März 2014 statt. Es war ein Massenprotest der Zivilgesellschaft gegen die Chinapolitik der Regierung. Sie blockierte vor allem die Unterzeichnung eines Dienstleistungsabkommens mit China. 

Seitdem ist vor allem bei jungen Menschen in Taiwan das Bewusstsein gewachsen, dass wir unsere freiheitliche und demokratische Lebensweise beschützen müssen. Die Menschen sind sehr besorgt über den Einfluss Chinas auf Taiwan. Die Behauptung Chinas, Taiwan sei nur eine Provinz oder ein Teil Chinas, akzeptieren wir nicht. Das ist auch der Hintergrund dafür, dass die jetzige Regierungspartei in den letzten zehn Jahren zwei Runden der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewonnen hat.

 

Die Entwicklung Taiwans hin zu einem demokratischen System ist in gewisser Weise anders als in der Region. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Lassen Sie mich ein wenig darüber sprechen, wie der Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie in Taiwan funktioniert hat. Es war ein friedlicher Übergang, und Taiwan wird in der Literatur oft als Beispiel für Demokratisierung durch Wahlen angeführt. Die ersten landesweiten Parlamentswahlen fanden 1991-1992 statt. 1996 gab es dann die ersten direkten Präsidentschaftswahlen. Durch die Wahlen verlor die alte autoritäre Partei nach und nach ihre Macht und ihren Einfluss auf die Gesellschaft. Es entstand eine lebendige Oppositionspartei, die heute regierende Demokratische Fortschrittspartei (Democratic Progressive Party; DPP). Der Parteienwettbewerb war die treibende Kraft hinter der Demokratisierung Taiwans.

 

Können Sie uns einen Überblick über die derzeit verfügbaren Instrumente der direkten Demokratie geben?

Zunächst einmal garantiert unsere Verfassung das Recht auf Abwahl. Aber als Taiwan autoritär regiert wurde, war dieses Recht, wie man sich vorstellen kann, reine Augenwischerei. Seit 1980 regelt das Gesetz über Wahlen und Abwahlen (der so-genannte Elections and Recalls Act), wie eine Amtsenthebung erfolgen kann. Die ursprüngliche Regelung setzte jedoch eine ziemlich hohe Hürde für solche Abstimmungen, so dass es keine erfolgreichen Fälle von Amtsenthebungen gab. Im Zuge der Sunflower-Bewegung wurde 2016-2017 das Gesetz über Wahlen und Abwahlen überarbeitet, um diese Hürden zu senken. Seitdem hat es in Taiwan eine Reihe von Amtsenthebungen gegeben. In Taiwan gibt es ein sogenanntes umfassendes Abwahlrecht, was bedeutet, dass gewählte Amtstragende aus jedem Grund ihres Amtes enthoben werden können. Inzwischen gibt es allerdings Befürchtungen, dass dieses Recht von politischen Parteien missbraucht werden könnte.

Wir haben auch Initiativen und Referenden. Die erste Version des Referendumsgesetzes wurde 2003 verabschiedet, aber die darin vorausgesetzte Wahlbeteiligung war ziemlich hoch. Für landesweite Initiativen und Referenden war eine Beteiligung von 50 Prozent der Wahlberechtigten erforderlich. Nach dem alten Referendumsgesetz waren außerdem rund eine Million Unterschriften erforderlich, um einen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen. Von den ersten sechs landesweiten Volksabstimmungen wurden zwei vom Präsidenten und vier von den beiden großen politischen Parteien vorgeschlagen. Wie man sieht, war das Referendumsverfahren unter diesen Regeln nur eine weitere Bühne für den Parteienwettbewerb.

2018 wurde das Referendumsgesetz überarbeitet. Die Zahl der erforderlichen Unterschriften wurde auf rund 300.000 gesenkt und eine neue Zustimmungshürde eingeführt. Das Referendum gilt nun als angenommen, wenn mehr als 25 Prozent der Stimmberechtigten die Ja-Option unterstützen und diese Option mehr Stimmen erhält als die Nein-Option. Unmittelbar nach der Reform des Referendums gab es 2018 einen Boom an Volksabstimmungen.

 

Im Jahr 2018 wurde über zehn Referendumsfragen abgestimmt, im August 2023 schaffte es keine einzige auf den Stimmzettel. Wie erklären Sie sich diese Achterbahnfahrt der direkten Demokratie?

Ja, dieses Jahr sollte es einen Referendumstag geben, aber wir hatten keinen Vorschlag, über den wir abstimmen konnten, weil in letzter Zeit kein Vorschlag die Vorprüfung bestanden hatte. 

Lassen Sie mich zunächst erklären, warum es 2018 einen solchen Boom an Referenden gab: Wir hatten ein neues Referendumsgesetz und es war sehr einfach, einen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen. Es war auch ein sehr starkes Instrument für den politischen Wettbewerb, weil das Referendum am selben Tag wie die nationalen Wahlen stattfand.

Im Jahr 2019 wurde das Referendumsgesetz erneut überarbeitet, um Volksabstimmungen und Wahlen voneinander zu trennen. Seitdem ist es zwar immer noch relativ einfach, ein Referendum vorzuschlagen, aber es ist für Politiker:innen nicht mehr so attraktiv. Wir wollen auch ein System der Vorprüfung und der gerichtlichen Kontrolle vor der Abstimmung entwickeln, um sicherzustellen, dass die Vorschläge legal und für eine Volksabstimmung geeignet sind. Und viele Menschen sind der Meinung, dass wir uns mehr Zeit nehmen sollten, um über das Thema nachzudenken, bevor wir abstimmen. Infolgedessen werden Volksabstimmungen immer seltener durchgeführt.

Ich glaube, Taiwan ist ein Beispiel dafür, wie wichtig die Spielregeln für die Dynamik der Referendumspolitik sind. Wenn wir Volksabstimmungen haben wollen, die gut funktionieren, müssen wir darüber nachdenken, wie wir den Prozess richtig strukturieren. Andernfalls können Referenden zu einer sehr populistischen Angelegenheit werden, zu einem Mittel, um den Ärger oder die Vorurteile der Wähler:innen zum Ausdruck zu bringen.

 

In Taiwan stehen 2024 Präsidentschaftswahlen an. Was bedeuten sie für die Demokratie?

Die bevorstehenden Wahlen könnten eine gewisse Bedeutung für die demokratische Geschichte Taiwans haben. Die taiwanesische Gesellschaft ist gespalten und die Menschen hier haben unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Taiwans. Einige wollen den Status quo der unabhängigen Demokratie behalten, andere halten es für besser, gute Beziehungen zu China zu pflegen und eine Art "Ein-China-Politik" zu akzeptieren. In gewissem Sinne können die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2024 als de facto Referendum über die Zukunft Taiwans betrachtet werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Taiwan in den letzten zwei Jahrzehnten etwa alle acht Jahre einen Parteiwechsel erlebt hat. Die derzeitige Regierungspartei ist seit fast acht Jahren an der Macht. Ob die DPP mit dem Gewinn des Präsident:innenamtes und der Mehrheit im Parlament an der Macht bleiben wird, ist daher noch sehr fraglich. So hat die Opposition in den letzten Tagen versucht, einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, ist aber gescheitert.

 

Angesichts der zunehmenden Bedrohung der Demokratie in vielen Teilen der Welt hatte ich bei unserem Gespräch den Eindruck, dass die Menschen in Taiwan volles Vertrauen in die Demokratie haben. Was ist das Rezept dafür?

Nun, wenn ich Ihnen den Eindruck vermittelt habe, dass die Menschen in Taiwan sehr stark an die Demokratie glauben... (lacht). In der gegenwärtigen geopolitischen Lage wird der Wille der Menschen, ihr Land und ihre Demokratie zu verteidigen, oft auf die Probe gestellt. Ich bin zuversichtlich, dass die Bürger:innen Taiwans an die Demokratie glauben, aber ich muss hinzufügen, dass Taiwan auch Ziel autoritärer Einmischung ist und wir ein großes Problem mit Desinformation haben. Zudem ist die politische Polarisierung ein ernstes Problem, ebenso wie die populistische Anziehungskraft. Auch bei uns gibt es Probleme.

Wir sind ein sehr freies und demokratisches Land, wir haben jeden Tag lebhafte politische Debatten im Kabelfernsehen und vor allem eine sehr lebendige Zivilgesellschaft.  Außerdem ist das Wahlsystem, das wir haben, zwar alt, aber vertrauenswürdig, so dass die Menschen an die Integrität des Wahlprozesses glauben. Wir wollen auf jeden Fall sicherstellen, dass Demokratie der einzige Akteur weit und breit ist, und das bedeutet, dass Wahlen wirklich wichtig sind. Auf jeden Fall hoffen wir, dass wir alle unsere Meinungsverschiedenheiten mit Stimmzetteln und nicht mit Kugeln lösen können.

 

Dieser Artikel wurde im Zusammenhang mit the Life as an activist geschrieben. Fünf Länder, fünf Demokratie-Aktivist:innen, fünf Mini-Dokumentationen! Das folgende Video ist die Dokumentation des Projekts "Life as an activist".

Mini-Dokumentation - Brian Hioe erklärt die Realitäten und Herausforderungen des Demokratieaktivismus in Taiwan.

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