Newsletter N°28 - September 2022
EDITORIAL
Chile will eine neue Verfassung - nur nicht diese neue Verfassung.
Vor zwei Jahren stimmten 78 Prozent der Wähler*innen in Chile einem Konvent zu, der die Verfassung des Landes aus der Pinochet-Ära ersetzen sollte. Doch am Sonntag lehnten 62 Prozent der Wähler*innen in einem obligatorischen Referendum die von diesem Konvent angenommene Verfassung ab.
Was ist geschehen? Obwohl Umfragen zeigen, dass die Wähler*innen eine neue Verfassung wollen, misstrauten sie der Neuartigkeit und Komplexität des Vorschlags. Dieser wurde von Delegierten erarbeitet, die vom Konvent gewählten worden waren - politischen Neulingen, die in einer Wahl mit geringer Beteiligung im Jahr 2021 gewählt wurden und von denen man annahm, dass sie den Konvent zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele nutzten.
Die von ihnen vorgeschlagene Verfassung wäre mit 388 Artikeln eines der längsten Regierungsdokumente der Welt. Kritiker*innen warfen dem Dokument unter anderem vor, dass es die demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten der heutigen und zukünftigen chilenischen Bürger*innen einschränken würde, da es zu viele politische Details zu, zu vielen verschiedenen Themen (von der Umweltregulierung bis zur Sozialfürsorge) in der Verfassung festschreibe.
Aber die Ablehnung ist nicht das Ende der chilenischen Verfassungsgebung. Es könnte ein neuer Anfang sein.
Der chilenische Präsident Gabriel Boric, der den abgelehnten Verfassungsvorschlag unterstützt hat, wird wahrscheinlich mit den Gesetzgebern zusammenarbeiten, um eine eigene neue Verfassung vorzulegen, die sich auf die beliebtesten Teile der abgelehnten Verfassung stützt. Es wird erwartet, dass Boric und Entscheidungsträger*innen des Landes eine parlamentarische Kommission oder vielleicht ein Expertengremium einberufen werden, um diese Arbeit voranzutreiben.
Das Problem ist, dass eine solche kürzere, von den Eliten entworfene Version des gescheiterten Dokuments Gefahr läuft, von der chilenischen Öffentlichkeit abgelehnt zu werden, die sich nach Veränderungen sehnt.
Wir schlagen einen demokratischeren Ansatz vor, bei dem die Wähler*innen selbst, und nicht gewählte Delegierte, die neue Verfassung schreiben. Ein neuer chilenischer Verfassungskonvent könnte sich auf die demokratischen Instrumente stützen, die der britische Politikwissenschaftler Matt Qvortrup und die Programmmanagerin für Europa von Democracy International, Daniela Vancic, in ihrem gleichnamigen Buch "Complementary Democracy" nennen.
Konkret könnte Chile eine verfassungsgebende Bürgerversammlung einberufen, die sich aus Chilenen und Chileninnen zusammensetzt, die durch ein Losverfahren bestimmten wurde, um einen neuen, kürzeren Vorschlag auszuarbeiten. Oder es könnte eine Reihe solcher Versammlungen auf lokaler Ebene einberufen werden und deren Arbeit dann zu einem nationalen Vorschlag zusammengefasst werden.
Solche lotteriegestützten Gremien, die sich aus normalen Menschen und nicht aus politisch Engagierten zusammensetzen, wären weniger von der Tagesordnung bestimmt als der gewählte Verfassungskonvent. Ähnliche "deliberative mini-publics" haben sich weltweit bewährt und zu zielgerichteten und ausgewogenen Empfehlungen geführt, die von der Bevölkerung unterstützt werden.
Eine Bürgerversammlung wäre auch repräsentativer für die chilenischen Wähler*innen, die schließlich das letzte Wort über eine neue Verfassung haben werden.
Joe Mathews
Redakteur und Kolumnist bei Zócalo Public Square
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