Newsletter N°23 - September 2021
EDITORIAL
Tunesien braucht neuen Anstoß für nationalen Dialog
In diesem Sommer führte ein Ausbruch von Straßenkämpfen gegen Parteizentralen zu einem skrupellosen Putsch von oben. Er bedroht die beeindruckenden demokratischen Errungenschaften, die Tunesien zum leuchtenden Beispiel des Arabischen Frühlings machten.
Es war der vor zwei Jahren gewählte Präsident Kais Saied selbst, der die Gewalt als Vorwand nutzte. Er hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf und setzte den Regierungschef ab. Außerdem kündigte Saied an, dass er die Kontrolle über die Staatsanwaltschaft übernehmen werde. Damit hat er die Gewaltenteilung, die Grundlage aller modernen Demokratien, faktisch außer Kraft gesetzt.
Saied beruft sich dabei auf Artikel 80 der demokratischen Verfassung, die nach der Revolution 2014, in der drei Jahre zuvor der langjährige Diktator Ben Ali gestürzt wurde, in einem landesweiten partizipatorischen Prozess ausgearbeitet wurde. Artikel 80 verleiht dem Präsidenten jedoch weder die Befugnis, das Parlament auszusetzen, noch die Kontrolle über die Justiz zu übernehmen. Vielmehr schreibt er ausdrücklich vor, dass der Präsident sowohl den Regierungschef als auch das Parlament konsultieren muss. Und er verpflichtet ihn, so schnell wie möglich zur normalen Regierungsarbeit zurückzukehren. Während des Ausnahmezustands gilt das Parlament als ständig tagend und es können in dieser Zeit keine Misstrauensanträge gegen die Regierung gestellt werden.
Tunesien, das einst als demokratischer Hoffnungsträger in der Region gepriesen wurde, hat somit eine gefährliche Entwicklung in Richtung Autokratie begonnen. Gegen viele Menschen, darunter Politiker*innen, Richter*innen, Mitglieder der Zivilgesellschaft sowie Geschäftsleute, wurden Reiseverbote verhängt. Andere wurden ohne rechtliche Grundlage unter Hausarrest gestellt. Prominente Oppositionelle, wie Yassine Ayari, wurden verhaftet und müssen sich vor dem Militärgericht verantworten. Der Ausnahmezustand wurde auf unbestimmte Zeit verlängert – ohne eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht, da ein solches Gericht derzeit überhaupt nicht existiert.
Diese jüngsten Entwicklungen fanden vor dem Hintergrund einer langanhaltenden Wirtschaftskrise statt, die durch die Pandemie noch verschärft wurde. Die Regierung konnte sich diesen Herausforderungen nur schwer stellen, da sie durch die vom IWF und der Weltbank geforderten Wirtschaftsreformen und der schleppenden Einführung von Impfstoffen in ihrem Handeln eingeschränkt war. Die Tatsache, dass es dem Parlament nicht gelungen ist, parteipolitische Differenzen zu überwinden, um die doppelte Krise zu bewältigen, sowie die Weigerung von Präsident Saied, die neu gewählten Minister*innen bei einer Kabinettsumbildung zu akzeptieren, hat dazu geführt, dass die tunesischen Bürger*innen jegliches Vertrauen in die gewählten Politiker*innen verloren haben und diesen Staatsstreich eines Teils der Exekutive gegen andere verfassungsmäßige Gewalten begrüßen.
Tunesien, das 2015 Gastgeber des Global Forum on Modern Direct Democracy war, erlebte einen friedlichen Übergang zur Demokratie, der 2015 mit dem Friedensnobelpreis gekrönt wurde. Es war die Leistung aller Tunesier*innen und es wird alle Tunesier*innen brauchen, um die Hoffnung des Arabischen Frühlings wieder aufleben zu lassen. Die Lösung für den institutionellen Stillstand in Tunesien, der vor dem 25. Juli herrschte, ist mehr Demokratie, nicht weniger. Dies muss gemeinsam mit der gesamten Bevölkerung Tunesiens und mit der Hilfe von Demokrat*innen aus aller Welt geschehen. Um eine Rückkehr zum demokratischen Prozess zu unterstützen, lesen und teilen Sie bitte diesen offenen Brief.
Mit freundlichen Grüßen,
Caroline Vernaillen
Global Manager PR & Community Building Democracy International
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