Newsletter N°12 - Juni 2019
EDITORIAL
Souverän für 15 Minuten
Sonntag, der 26. Mai, 14 Uhr. Ich mache mich auf den Weg zur Europawahl. Fünf Minuten brauche ich zu Fuß zum Wahllokal. Untergebracht ist es, wie sonst auch immer, in der örtlichen Grundschule – Die Wahlkabinen sind in einem der schlichten Klassenzimmer aufgestellt. Drei Wahlhelfer*Innen, die an den schon etwas ramponierten Schultischen sitzen, begrüßen mich, fragen nach meiner Wahlbescheinigung und reichen mir dann den Wahlzettel.
Vor mir sind noch zwei Personen an der Reihe, so dass ich noch etwas warten muss. Schon irgendwie absurd denke ich. Mehr als 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger stimmen heute bei der zweitgrößten Wahl auf diesem Planeten ab, und ich stehe hier in einem kleinen Klassenzimmer, zwischen handgemalten Bildern der Schüler*Innen an den Wänden und Kreidestücken auf dem Boden. Dabei geht es aber um etwas ganz Großes: Mit meiner Stimme soll ich heute entscheiden, was in den nächsten fünf Jahren mit und in der EU passiert.
Jetzt ist eine der Wahlkabinen frei, ich mache mein Kreuz und stecke den Wahlzettel in die Urne. Welche Partei ich wählen möchte, habe ich schon vorher entschieden. Nach fünf Minuten stehe ich deshalb schon wieder vor der Eingangstür und mach mich auf den Rückweg. Fünf Minuten hin, fünf Minuten Wählen, fünf Minuten zurück – 15 Minuten Souverän sein. Und jetzt?
In der Demokratie sind die Bürgerinnen und Bürger der Souverän. Gemeinsam entscheiden wir wie wir zusammenleben wollen, welche Themen uns wichtig sind, wer uns repräsentiert und worüber wir selbst abstimmen wollen. So die Theorie – die Realität in Europa sieht aber leider anders aus. Meine Mitsprache in fünf Jahren beschränkt sich auf lediglich 15 Minuten. Den Rest der Zeit bin ich zum Zuschauen verdammt. Einfluss nehmen darf ich nicht mehr. Wenn ich Glück habe, hört jemand meine Stimme auch außerhalb des Wahltages. Aber garantiert ist das nirgends, hoffen kann ich nur auf den guten Willen einer Politiker*In. Vom Souverän zum Bittsteller? – mein Demokratieverständnis sieht anders aus.
Eine Demokratie braucht mündige Bürger*Innen und mündige Bürger*Innen brauchen starke Demokratieinstrumente. Dafür reichen Wahlen aber nicht aus. Es geht nicht darum das Parlament zu schwächen oder gar abzuschaffen. Nein, es geht darum die Rechte der Bürger*Innen zu stärken. Auch zwischen Wahlen muss es möglich sein Ideen und Vorschläge einzubringen und als Bürger*In mit zu entscheiden.
In den letzten fünf Monaten haben wir mit unserer „Now The Citizens“-Kampagne genau dafür gekämpft. Wir fordern, dass Bürger*Innen gemeinsam mit den Politiker*Innen in Bürgerversammlungen neue und progressive Ideen für Europa erarbeiten. Wir wollen, dass Bürger*Innen sich auch zwischen den Wahlen einmischen und Themen auf die politische Agenda setzen können. Und wir fordern europaweite Abstimmungen über Fragen, die uns alle betreffen.
Über 300 Kandidat*Innen haben im Vorfeld der EU-Wahl versprochen unsere Forderungen zu unterstützen. Knapp 30 von ihnen sind ins neue EU-Parlament gewählt worden. Zusammen mit ihnen werden wir jetzt Druck machen und für mehr Demokratierechte streiten. Damit aus 15 Minuten irgendwann alle Tage werden.
Herzliche Grüße,
Andreas Müller,
Geschäftsführung Democracy International
P.S.: Unsere Arbeit ist nur möglich, da uns viele Menschen regelmäßig mit ihren Spenden unterstützen. Schon 5 Euro im Monat, sind eine große Hilfe.
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